Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Bevormundung?«
Respekt vor Fremdem und Engagement
Am Ende läßt der Arzt die Eltern mit Gewalt aus dem Raum führen und nimmt die Transfusion vor. »Ich konnte nicht anders, ich mußte es tun«, sagt er nachher. Vorher hatte er noch einmal mit sich gesprochen: »Was man für eine Weltanschauung hat, ist historisch und geographisch zufällig. Es ist diese Einsicht, die echte Toleranz schafft. Das vertrete ich doch sonst immer. Warum richte ich mich jetzt nicht danach?« Doch der innere Monolog hatte den ersten Impuls, das Leben des Kindes retten zu wollen, nicht verändern können. Der Arzt hatte gespürt: Wenn ich meiner Überzeugung nicht folge, verliere ich mich als einen in dieser Sache Engagierten. Wie soll ich heute ruhig schlafen können, wenn ich dieses Kind sehenden Auges sterben lasse, nur weil die Eltern diese abstruse Vorstellung der Verdammnis haben?
Später, als alles vorbei ist, sucht der Arzt gedankliche Klarheit. Man kann nicht das für richtig Gehaltene unterlassen, nur weil andere es für falsch halten, sagt er sich. Aber warum eigentlich? Wenn ich – als ein Stück abstrakten, theoretischen Wissens – weiß, daß meiner Auffassung, wie jeder Auffassung, etwas von geschichtlicher Zufälligkeit anhaftet, so ändert das nichts daran, daß ich sie für richtig halte, und zwar nicht nur als eine Möglichkeit unter anderen, von denen ich eine jede in jedem Moment mit gleicher Emphase vertreten und handlungswirksam werden lassen könnte, sondern als die richtige Auffassung. Sonst hätte ich sie gar nicht. Denn glauben heißt, für richtig halten. Und das bedeutet: Es war eine Frage meiner Ernsthaftigkeit , auch meiner Echtheit , daß ich – obwohl ich ja einen Anlauf nahm – mir nicht wirklich sagen konnte: »Nun ja, vielleicht ist es anders richtig, wer weiß, vielleicht sind das Leben und die Gesundheit des Kindes ja tatsächlich weniger wert als sein Seelenheil im Jenseits.« Was wäre einer ohne diese Art von Ernsthaftigkeit und Echtheit in den wichtigsten Dingen des Lebens? Und ist das nicht auch eine Frage meiner Würde?
An diese Gedanken wird er sich erinnern, wenn er ins nächste Dilemma der fürsorglichen Bevormundung gerät. Eine schwangere Frau mit Wehen wird eingeliefert. Die Untersuchung zeigt eine Lage des Kindes, die eine normale Geburt unmöglich macht. »Wir müssen einen Kaiserschnitt machen«, sagt er zu der Frau. Sie stammt aus einem entlegenen Dorf in einem fernen Land, wo es mächtige Geistliche gibt. »Auf keinen Fall!«, sagt die Frau, und er erfährt: Dort, wo sie herkommt und wohin sie bald zurückkehren wird, hält man einen solchen Eingriff für Frevel, für einen Verstoß gegen die göttliche Ordnung. Sie würde vom Geistlichen verdammt und von ihrem Mann und den Leuten im Dorf geächtet; es wäre die Hölle. Der Arzt erklärt ihr, daß das Kind ohne diesen Eingriff mit Sicherheit stürbe und daß auch sie selbst in Lebensgefahr geriete. »Das ist immer noch besser als Verdammnis und Ächtung!«, ruft die Frau aus.
Ich stelle mir vor, ich selbst wäre der Arzt. Die Zeit drängt, aber ich will Rechtssicherheit und rufe einen Richter an. »Sie werden wissen«, sagt er: »Operative Eingriffe sind Körperverletzungen, aber bei wirksamer Einwilligung gerechtfertigt. Einwilligung wird nicht nach Maßstäben vernünftigen Handelns unterstellt, sondern darf nach den höchstpersönlichen Maßstäben des Patienten verweigert werden. Das heißt: Ein Kaiserschnitt gegen den Willen der Patientin ist eine rechtswidrige Körperverletzung. Aber ich würde mir in Ihrem Fall keine allzu großen Sorgen machen. Sie können einen strafrechtlichen Entschuldigungsgrund geltend machen: Gewissensfreiheit. Man darf Ihnen nicht zumuten, die Patientin und das Kind sehenden Auges sterben zu lassen, zumal Sie als Arzt im Notdienst ganz überraschend in diese Situation geraten sind und die Behandlung nicht vorausschauend ablehnen konnten.«
Das hilft. Aber es hilft nicht in jeder Hinsicht. Die Situation ist komplizierter als bei der verweigerten Bluttransfusion. Zwar steht hier wie dort das Leben eines Kindes auf dem Spiel. Aber hier ist das Kind, obgleich unmittelbar vor der Geburt, noch ein Fötus und in gewissem Sinne noch Teil des mütterlichen Körpers, über den sie selbst die Autorität hat. Der Eingriff bedeutet also eine Bevormundung der Frau, die noch weiter geht als im früheren Fall: Man schneidet ihr gegen den erklärten Willen den Körper auf. Hinzu kommt, daß sie eine klare
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