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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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zwischen Menschen gehört zur Natur einer echten Begegnung, die auch eine Form der Würde ist.
    Was also ist der Unterschied zwischen Selbständigkeit und einer inneren Unselbständigkeit, die ein Problem für die Würde bedeutet? Der Unterschied hat mit dem zu tun, was uns zu Subjekten macht: Wir brauchen unser Leben, auch unser inneres Leben, nicht nur einfach geschehen zu lassen und brauchen uns von dem, was in unserem Inneren geschieht, nicht nur treiben zu lassen. Wir können das innere Geschehen zum Thema machen, es befragen und uns darum kümmern .
    Was wir dabei tun können, und wie die erreichte Selbständigkeit aussieht, hängt von der Art des inneren Geschehens ab. Eine erste Form der Selbständigkeit ist die Selbständigkeit im Denken . Vieles, was wir denken, meinen und sagen, ist zunächst durch Nachahmung und Gewohnheit entstanden: Man hat es uns vorgesagt, und wir haben es nachgeplappert. Es funktioniert: es paßt zu dem, was die anderen plappern. Eine gedankliche Selbständigkeit, wie sie zur Lebensform der Würde gehört, zeigt sich in einer besonderen Wachheit gegenüber dem, was man denkt und sagt. »Was genau bedeutet das?« und »Woher eigentlich weiß ich das?«, sind die beiden Fragen, in denen sich diese Wachheit ausdrückt. Zur Selbständigkeit gehört, daß diese Fragen zur zweiten Natur werden. Sie sind geleitet von der Einsicht, daß vieles, was bedeutungsvoll klingt, ohne Bedeutung ist. Daß vieles, was wie ein Gedanke aussieht, keiner ist. Daß wir von vielem, was wir zu denken und zu glauben gewohnt sind, gar nicht wissen, warum wir es eigentlich denken und glauben. Und daß etwas, was wie ein teurer Gedanke aussieht, vielleicht nur ein billiger Spruch ist. Selbständig zu sein, heißt, skeptisch zu sein gegenüber leeren Worten und glatten Sprüchen. Es heißt, unnachgiebig und leidenschaftlich zu sein in der Suche nach Klarheit und gedanklicher Übersicht. Wer in diesem Sinne selbständig ist, hat das Bedürfnis, sich im eigenen Denken zu orientieren und seine Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen. Er hat in diesem umfassenden Sinn das Bedürfnis, sich seine eigene Meinung zu bilden. Er wird auf der Hut sein, wenn man ihn durch Sprüche und leere Worthülsen zu verführen und zu übertölpeln versucht. Er wird sich nicht bevormunden lassen in dem, was er für bedeutungsvoll und wahr hält. Er wird sich nichts vormachen lassen – nicht vom Stammtisch, nicht von Zeitungen, von Politikern, von der Familie, vom Clan. Er wird dem eigenen Verstand trauen. Den eigenen Begründungen und Beweisen. Den eigenen Erfahrungen. Er wird selbst Regie führen über das, was er denkt.
    Die Gegenfigur zum gedanklich Selbständigen ist der gedankliche Mitläufer, der servile Diener fremder Gedanken und fremder Sprüche. Er ist ein gedanklich Getriebener, der von Meinungsgewohnheiten, Parolen und rhetorischen Brocken lebt, die über seine innere Bühne huschen und ihren Weg in schlecht beleuchteten Sätzen nach außen finden. Den Unterschied zwischen Geschwätz und Gedanke kennt er nicht. Das Bedürfnis nach Aufklärung, Überprüfung und Korrektur ist ihm fremd. Er sagt, was man am Stammtisch, im Wahlkampf oder in der Talkshow von ihm erwartet. Er ist der ideale Parteigänger. Es ist langweilig, seinen vorhersehbaren Phrasen zuzuhören, und sein Geplapper kann einen als unwürdiges Schauspiel anmuten.
    Wir sind empfindlich, wenn man uns in der gedanklichen Selbständigkeit behindert und uns zu bloßen Repetitoren von Geschwätz machen will. Und es ist nicht nur ärgerlich: Es gefährdet unsere Würde. Orwell hat die Vernichtung dieser Art von Würde beschrieben. »Was immer die Partei für die Wahrheit hält, ist die Wahrheit«, sagt O’Brien zu Winston. Er hält vier Finger hoch. Wie viele Finger es seien, fragt er Winston. »Vier«, sagt Winston. »Und wenn die Partei sagt, daß es nicht vier sind, sondern fünf – wie viele sind es dann?« »Vier.« Und dann quält ihn O’Brien so lange, bis sogar diese elementare Form von gedanklicher Selbständigkeit – das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und das elementare Wissen um Zahlen – zerstört ist. »Was soll ich machen?«, ruft Winston verzweifelt, »wie kann ich ändern, was ich vor meinen Augen sehe? Zwei und zwei sind vier.« »Manchmal, Winston. Manchmal sind sie fünf. Manchmal sind sie drei. Manchmal sind sie beides zusammen. Du mußt dich mehr anstrengen.« Er steigert Winstons Schmerzen. »Wie viele Finger, Winston?« »Vier. Ich

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