Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
um eine Versetzung vorzutragen.
LOMAN: Um ganz offen zu sein, Howard: Ich habe den Entschluß gefaßt, nicht mehr herumzureisen.
»Den Entschluß gefaßt«: Er will es so aussehen lassen, als sei er es, der über sich und seine zukünftige Arbeit bestimmt. Als sei seine Selbständigkeit ungefährdet. Deshalb formuliert er es nicht als Bitte, sondern als Ankündigung. Und die Wortwahl der freien Entscheidung ist ein rührender, hilfloser Versuch, die Abhängigkeit zu leugnen und einer drohenden Demütigung entgegenzuwirken. Howard erklärt, es gebe im Hause keine Stelle für ihn. Wenn Loman nun trotzdem weiter versucht, sich mit seinem Wunsch Gehör zu verschaffen, wird aus der Ankündigung unweigerlich ein Bitten.
Was eine Bitte gefährlich macht, ist, daß ihre Begründung zwangsläufig darin bestehen wird, von der eigenen Bedürftigkeit zu sprechen und sich in seiner Schwäche zu offenbaren. Von seinen Schwächen zu sprechen, kann etwas sein, was man tut, weil es zur Intimität einer Beziehung gehört – dazu, daß einen der andere auch in dieser Hinsicht kennt. Und es kann die Möglichkeit für tiefere Empfindungen schaffen, die nicht zustande kämen, wenn man dem anderen diesen Einblick nicht gewährte. So ist es, wenn Loman zu seiner Frau sagt: »Ich bin todmüde. Ich hab’s nicht geschafft. Ich hab’s einfach nicht geschafft, Linda … Auf einmal konnte ich nicht mehr fahren. Der Wagen zog dauernd zur Seite, verstehst du? … Plötzlich merke ich, daß ich hundert Sachen draufhabe, und weiß nicht mehr, was in den letzten fünf Minuten war …« Dieses Eingeständnis von Schwäche bedeutet keine Gefahr für Lomans Würde: Es ist seine Frau, der er sich offenbart. Entscheidend ist, daß er es freiwillig tut, aus der Intimität ihrer Beziehung heraus, nicht strategisch, um einen Zweck zu erreichen, und nicht gezwungenermaßen. Was bei einem Bitten schwerfällt, ist nicht nur das Eingeständnis einer Schwäche, sondern die Tatsache, daß man nicht freiwillig davon spricht, sondern aus einer Zwangslage heraus. Wie sehr einem das widerstreben mag, zeigt sich daran, daß man manchmal lieber das Bedürfnis unbefriedigt läßt, als die Schwäche zu offenbaren. Analphabeten etwa verzichten manchmal auf ganze Lebensentwürfe, nur um nicht um Hilfe bitten zu müssen.
Das hat mit der zweiten Antwort auf unsere Frage zu tun, wann Hilfsbedürftigkeit die Würde gefährdet und wann nicht: Es kommt nicht nur auf die Natur der Beziehung an, sondern auch auf die eigene Einstellung : darauf, wie man die eigene Schwäche sieht. Loman sieht seine Erschöpfung und Erfolglosigkeit als einen Makel , so daß er in dieser Zwangslage ist: Er muß das, was er als den größten Makel überhaupt betrachtet, die Erfolglosigkeit, zur Sprache bringen, um sein Ziel zu erreichen. Hätte er sich von dem sogenannten Amerikanischen Traum nicht in diesem Ausmaß versklaven lassen, wäre es leichter. »Gut«, könnte er sich sagen, »es geht bergab. Aber ist das bei einem Vertreter in diesem Alter ein Wunder? Howard ist ein Arsch, für ihn zählen nur Erfolg und Geld. Mal sehen, ob er mir trotzdem hilft. Wenn nicht, habe ich ein Problem. Aber es ist kein Würdeproblem, nur ein Geldproblem. Das Würdeproblem – das hat dann er . Wer einen rausschmeißt, der ein Leben lang für ihn geschuftet hat, ist ein würdeloser Lump.«
Es wird nun alles darauf ankommen, wieviel Loman von sich preisgeben muß, um der Bitte Nachdruck zu verleihen. Er beginnt mit einer Bemerkung über seine familiäre Situation, in der noch keine Empfindung der Schwäche oder gar Verzweiflung zum Ausdruck kommt.
LOMAN: Es ist so, Howard: Die Jungs sind erwachsen, ich brauche nicht mehr viel zum Leben. Wenn ich, sagen wir, so fünfundsechzig Dollar die Woche heimbrächte, käme ich gut über die Runden.
HOWARD: Ja, aber versteh’ doch, Willy …
Es hat nicht geholfen. Loman spürt, daß er nun eine andere Ebene betreten muß, die Ebene, auf der von seinen Gefühlen die Rede ist. Es ist eine neue Ebene, die in seiner Beziehung zu Howard noch nie eine Rolle gespielt hat. Und er betritt diese Ebene nicht, weil sich die Dinge zwischen ihnen von selbst zu größerer Nähe entwickelt hätten. Er betritt sie, um etwas zu erreichen, als ein Mittel zum Zweck also. Dieser Schritt ist demütigend für Loman, denn er geschieht aus einer Ohnmacht heraus.
LOMAN: Ich sag’ dir auch, warum. Ganz unter uns und geradeheraus, du verstehst schon: Ich bin einfach ein
Weitere Kostenlose Bücher