Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
irrtümlichen Anlaß der Affekte Gewißheit verschaffen.
Wenn sich das Urteil verändert, kann sich auch der Affekt verändern: Die Angst oder die Eifersucht verschwindet, wenn wir den Anlaß als trügerisch erkennen. In diesem Sinne können wir Einfluß auf die Affekte nehmen und ihnen gegenüber Selbständigkeit beweisen. Doch manchmal tritt etwas ein, was der früher besprochenen Willensschwäche analog ist: Die Einsicht gleitet kraftlos am übermächtigen Affekt ab, so wie die Einsicht des Süchtigen gegen den zwanghaften Willen unterliegt. Der Affekt wird uns dadurch fremd, er scheint gar nicht richtig zu uns zu gehören, und er ist mit der Erfahrung der Ohnmacht verbunden. So ist es bei unbegründeter, aufsässiger Angst: Flugangst, Platzangst, Angst vor Spinnen, Angst vor Wasser, Angst vor allem, so daß man das Haus nicht mehr verläßt. Oder wir leiden unter einem Haß auf jemanden oder auf eine Gruppe, ohne daß wir sagen könnten, worin er seinen Ursprung hat. Auch übergroße Wut kann uns plagen, oder Eifersucht, die wir längst als grundlos erkannt haben. Auch hier könnte man von Autorität sprechen: Es gelingt nicht, uns mit unserer Einsicht gegenüber der Wucht des Affekts Autorität zu verschaffen. Das erleben wir als fehlende Selbständigkeit.
Doch Selbständigkeit und Autorität unseren Affekten gegenüber erschöpft sich nicht im Einfluß durch Einsicht. Es geht auch um Kontrolle . Inwiefern hängt unsere Würde davon ab, daß wir unsere Affekte unter Kontrolle haben? Es kann sein, daß jemand seinen rohen Affekten aus purer Bequemlichkeit die Regie überläßt: als vulgäres Sich-Gehenlassen, etwa unter Alkohol oder im grölenden Gruppenritual. Wenn wir das sehen, empfinden wir es als würdelos. Doch es gibt Explosionen von Angst, Wut und Haß, auch Eifersucht, die die Würde nicht gefährden: Die Situation und ihr enormer Druck lassen den Kontrollverlust verständlich erscheinen, sogar unvermeidlich, es wäre gespenstisch, ja unmenschlich, wenn unter diesen Umständen nichts explodieren würde. In solchen Affekten zeige ich mich als echt – als der, der ich bin. Die Selbständigkeit und ihre Würde liegen in der Überwältigung.
Die Echtheit muß sich nicht in Überwältigung zeigen. Es kann auch darum gehen, daß ich mich abwägend entschließe , mich einem Affekt hinzugeben. Dann liegt die Selbständigkeit in diesem Entschluß: Nur wenn ich mit der Zügelung und Unterdrückung dieser Angst oder dieser Wut aufhöre, kann ich bei mir selbst sein und mich weiterentwickeln. Würde als Mut zu Affekten, mit denen ich mich identifizieren kann. Und ich lasse mir von niemandem vorschreiben, welche es sind.
Innere Selbständigkeit: Selbstbild und Zensur
Als Subjekte sind wir Wesen, die über ein Selbstbild verfügen: eine Vorstellung davon, wer sie sind und wie sie sein möchten. Damit geht einher, daß wir nicht alles, was es an Gedanken, Wünschen und Affekten in uns gibt, ins Handeln einfließen lassen, und einigem versperren wir sogar den Zugang zum Erleben. Subjekte sind Wesen, die sich in ihren Impulsen zensieren und kontrollieren können. Darin besitzen sie eine Form der inneren Autorität. Und auch das ist eine Dimension, in der es Selbständigkeit und Unselbständigkeit gibt, Würde und Würdelosigkeit.
Was wir an Selbstbildern und Zensur mit uns herumtragen, haben wir ursprünglich durch Nachahmung und Anerziehen erworben. Andere haben es uns vorgesagt und vorgelebt, und wir haben es in uns nachgebildet. Es ist ein Prozeß, in dem das Diktat äußerer Autoritäten verinnerlicht wird: das Diktat von Eltern, Lehrern, religiösen Führern, Institutionen mit Gruppenidealen. Innere Autorität beginnt als verinnerlichte äußere Autorität. In diesem Sinne beginnen wir alle mit Unselbständigkeit: Die verinnerlichte Autorität ist übermächtig und unverfügbar. Sie ist es auch deshalb, weil sie nicht bewußt ist und nicht als Autorität erkannt wird. Sie operiert hinter unserem Rücken.
Doch wir können selbständig werden und selbstbestimmt. Das heißt zunächst: die zensierten Wünsche und Affekte bewußtmachen. Bemerken lernen, daß sie da sind, und die Routine erkennen, mit der wir sie der Zensur unterwerfen: Begierden und Sehnsüchte, Angst, Neid und Eifersucht, auch verbotene Wut, etwa auf Lebenspartner, die eigenen Kinder oder auf religiöse Autoritäten. In einem zweiten Schritt dann bedeutet Selbständigkeit: sie neu bewerten im Lichte des eigenen Urteils, das wir inzwischen
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