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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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vermute vier. Ich würde fünf sehen, wenn ich könnte. Ich versuche, fünf zu sehen.« »Was möchtest du: mich überzeugen, daß du fünf siehst, oder sie wirklich sehen?« »Sie wirklich sehen.« Und dann sagt O’Brien Worte, die an Grausamkeit nicht zu übertreffen sind, denn sie sind nichts weniger als das Manifest einer Vernichtung von Würde durch Zerstörung gedanklicher Selbständigkeit: »Wenn du dich uns schließlich ergibst, muß es aus deinem eigenen freien Willen heraus geschehen. Wir vernichten den Häretiker nicht, weil er uns widersteht: solange er uns widersteht, vernichten wir ihn nicht. Wir verwandeln ihn, wir bemächtigen uns seines Geistes, seiner Innenwelt, wir formen ihn ganz neu … Wir bringen ihn auf unsere Seite, nicht nur dem Anschein nach, sondern wirklich, ganz im Innersten. Wir machen ihn zu einem von uns, bevor wir ihn umbringen. Es ist für uns unerträglich, daß es irgendwo in der Welt einen falschen, abweichenden Gedanken geben sollte, mag er noch so geheim und ohne Macht sein.«
    Das Schlimmste, sagen Folteropfer, die in Schauprozessen zu falschen Geständnissen und zu einem ideologischen Kotau gezwungen wurden, waren nicht die Schmerzen und auch nicht die Verstümmelungen. Das Schlimmste war der Angriff auf ihre Würde als selbständig denkende Wesen. Die Rettung ist das Lippenbekenntnis. Es ist dieser Fluchtweg, den O’Brien Winston abzuschneiden versucht.
    Die Würde der inneren Selbständigkeit ist nicht ans Gelingen geknüpft, sondern an das Bewußtsein vom Ziel und an den Versuch, es zu erreichen. Nicht dem mangelt die Würde, dem die Selbständigkeit mißlingt, weil ihm die gedankliche Übersicht fehlt und er sich verstolpert. Man kann sich gedanklich verlaufen und verirren. Man kann überfordert sein. Das untergräbt die Würde nicht. Sie geht erst dann verloren, wenn die Selbständigkeit als Maßstab aus dem Blick gerät oder von Anfang an fehlt. Würdelos ist nicht der gescheiterte Versuch, sondern der fehlende Versuch. Am schlimmsten finden wir den, der dem Ideal mit Verachtung begegnet. Das ist der Dummschwätzer. Wir werden ihm im vierten Kapitel noch einmal begegnen.

Innere Selbständigkeit: wollen und entscheiden
     
    Eine andere Form der inneren Selbständigkeit ist die Fähigkeit, über den eigenen Willen zu bestimmen. Wir haben zu jedem Zeitpunkt mehrere Wünsche, die sich widerstreiten und nicht alle in Handlungen münden können. Derjenige Wunsch, der handlungswirksam wird, ist der Wille. Nachdenkend und abwägend nehmen wir Einfluß auf unsere Wünsche, lassen einige handlungswirksam werden und andere nicht. Das ist die Freiheit der Entscheidung. Sie ist die Fähigkeit, das zu wollen, was wir als Ergebnis selbständigen Denkens für richtig halten. Einfluß nehmen auf das eigene Wollen durch selbständiges Überlegen: Das ist es, was wir Entscheiden nennen. Wir sind selbständig in unserem Wollen, weil wir auf unseren Willen Einfluß nehmen können durch ein Denken und Urteilen, das selbständig ist.
    In dem Maße, in dem wir durch selbständiges Denken Regie führen können über unser Wollen und Tun, haben wir eine offene Zukunft, und diese Offenheit ist ein wichtiger Aspekt an der Erfahrung der inneren Selbständigkeit. Natürlich entscheiden oft andere darüber, was um uns herum und mit uns geschieht, und in diesem Sinne sind wir abhängig, nicht selbständig. Und die anderen können uns durch ihr tyrannisches Tun die Zukunft verbauen, durch eine Mauer oder auf andere Weise. Aber wenn es darum geht, was wir unter gegebenen Umständen wollen und wozu wir uns entscheiden, gibt es diese Offenheit der Zukunft: Wir können Verschiedenes wollen und uns für Verschiedenes entscheiden. Es ist nicht so, daß uns die Vergangenheit unwiderruflich festlegt und einschnürt. Wir müssen unter ihrem Einfluß nicht versteinern. Wir können uns von der Vergangenheit des Erlebens und Wollens distanzieren . Wir können uns verändern . Diese erlebte Offenheit der Zukunft ist die zeitliche Erscheinungsform der inneren Selbständigkeit
    Auch diese Form der Selbständigkeit kann man sich verdeutlichen, indem man sich die gegenteilige Erfahrung vor Augen führt und sich klarmacht, wie das Gefühl verlorener Würde mit ihr einherginge. Es wäre die Erfahrung, daß das Denken und Urteilen keinerlei Einfluß auf das Wollen hätte und wirkungslos an ihm abglitte: daß der Wille unbeeinflußbar und unaufhaltsam seinen Lauf nähme. Es wäre die Erfahrung eines inneren Zwangs . So

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