Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
schwieg – die Beklommenheit beim Gedanken an das, was bevorstand –, aber er wußte nicht, warum sie schwieg. Es hatte weh getan, daß sie schwieg, und daß er es nicht zu deuten wußte. Jetzt betreten sie das Zimmer, in dem er die nächsten Wochen verbringen wird: kahl, zweckmäßig, unpersönlich, Geruch nach Desinfektion. Sarah ist hinter Bernhard eingetreten. Er spürt ihr Erschrecken, ihre Abwehr, ihre verschwiegene Erleichterung bei dem Gedanken, daß nicht sie es ist, die hier bleiben muß. Sie hat die Tür nicht geschlossen, nur angelehnt, als Fluchtweg. Er hätte sich gewünscht, daß sie die Tür geschlossen und mit ausgepackt hätte. Ihm mit ihrem Blick und ihren Worten geholfen hätte, den Raum zu einem erträglichen Ort zu machen statt zu einer Zelle. Doch sie behält den Mantel an und bleibt stehen, halb schon zur Tür gewandt.
»Also dann«, sagt sie und legt die Hand auf die Türklinke.
»Kannst du nicht noch ein bißchen bleiben?«, fragt er, erschrocken darüber, wie belegt seine Stimme klingt.
Mit dieser Frage verspielt er seine Würde noch nicht. Er gibt nur einem Wunsch Ausdruck und mit dem Wunsch auch einer Reihe von Empfindungen: Angst vor der Einsamkeit und Verlassenheit, vor der Fremdheit der unpersönlichen, grauen Umgebung, vor der Krankheit. Zwar sind das Empfindungen der Schwäche. Aber Schwäche zu zeigen, ist nicht an und für sich schon eine Bedrohung der Würde. Würde kann nicht bedeuten, daß man keine Schwächen eingesteht. Noch kann es sein, daß das Eingeständnis der Schwäche und der Wunsch, Sarah möge bleiben, in ihr auf echte Empfindungen treffen, die in den natürlichen Wunsch münden zu bleiben.
Doch es kommt anders. »Ich muß morgen früh raus«, sagt sie und zieht die Tür weiter auf.
»Bitte«, sagt Bernhard heiser, »es ist hier so …, und es ist doch erst sieben Uhr.«
Das erste Mal war es ein Bitten, jetzt ist es schon ein Betteln. Wie vorher ist es ein Eingeständnis von Schwäche, ein Hilferuf: Ich habe noch nicht die Kraft, hier allein zu sein. Die Botschaft in ihrer Reaktion: Mein Wunsch zu gehen ist stärker und mir wichtiger als dein Wunsch, ich möge bleiben. Das kann er nur so erleben: Ich bin ihr mit meinem Bedürfnis nicht wichtig genug. Sie hat nicht die Gefühle für mich, die ich mir wünschte.
Wenn Sarah nun die Tür schließt und sich im Mantel aufs Bett setzt: Es hilft nicht mehr, denn sie tut es wie jemand, der einem Bettler ein Almosen in den Hut wirft. Es ist klar: eigentlich, also im Sinne des spontanen Wünschens, will sie nicht bleiben. Wenn sie es trotzdem tut, dann aus einem erzwungenen Müssen heraus: »Also gut, ich bin halt seine Frau.« Und vielleicht: »Er ist ja wirklich ein armer Teufel mit allem, was ihm bevorsteht.«
»Es ist besser, wenn du jetzt gehst«, wird Bernhard vielleicht sagen, »ich komme schon allein zurecht.«
Er tritt unter die Tür und blickt ihr nach, wie sie den Flur entlanggeht, ohne sich umzudrehen. Hätte ich nur nicht gebettelt, wird er vielleicht denken. Macht es einen Unterschied, ob der nächste Gedanke so lautet: »Ich bin ihr die paar Minuten im kahlen Zimmer einfach nicht wert«, oder so: »Sie ist erstarrt, das Zimmer hat sie an die eigene schlimme Zeit im Krankenhaus erinnert«? Macht es einen Unterschied für die Würde?
Innere Selbständigkeit: denken
Es ist nicht nur nach außen hin, daß wir selbständig sein möchten. Nicht nur die Abhängigkeit von anderen Menschen, wie Willy Loman und Bernhard Winter sie erleben, kann unsere Würde gefährden. Es gibt auch ein Bedürfnis nach innerer Selbständigkeit: nach der Möglichkeit, über unser Denken, Fühlen und Wollen selbst zu bestimmen und in diesem Sinne unabhängig zu sein und nicht angewiesen auf andere. Und auch wenn uns diese Art von Selbständigkeit mißlingt, können wir das als eine Gefährdung unserer Würde empfinden. Doch worin kann sie bestehen, diese innere Selbständigkeit?
Sie kann nicht darin bestehen, daß wir von anderen Menschen überhaupt nicht beeinflußt werden. Selbständig zu sein in seiner Innenwelt, heißt nicht, nach außen versiegelt zu sein, gleichgültig und unempfindlich gegen Einflüsse. Als ob man auf einer Insel lebte oder in einem Bunker. Wie wir unser Leben leben und erleben, auch unser inneres Leben, wird tausendfach von anderen beeinflußt. Und wir wollen das auch. Es gehört zur Möglichkeit, uns zu entwickeln und zu entfalten. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden: Diese Beeinflussung
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