Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
bißchen müde.
Das ist beklemmend. Warum? Was geschieht da, was nicht geschehen sollte? Loman versucht, dem Eingeständnis seiner Schwäche den Anstrich des Wertvollen, eine gewisse Dignität, zu verleihen: Er bietet Howard sein Vertrauen und seine Offenheit als etwas Wertvolles an, als eine neue, intimere Definition ihrer Beziehung. Es ist beklemmend, weil wir wissen, daß Howard nichts weniger wünscht als das. Und vor allem ist es beklemmend, weil klar ist: Auch Loman weiß das. Und tut es trotzdem. Es ist eine paradoxe Handlung: Vertrauen und Offenheit als Instrument, um bei jemandem etwas zu erreichen, der, wie man weiß, die Art von Intimität, die geschaffen würde, von vornherein verweigert. Vertrauen und Offenheit, so eingesetzt, werden durch den Akt des Benutzens zerstört, die Zweckmäßigkeit zersetzt sie. Loman versucht, mit der eigenen Schwäche zu feilschen. Es geschieht aus Verzweiflung. Trotzdem: Er ist dabei, seine Würde in einer Ausprägung zu verspielen, die wir im fünften Kapitel besprechen werden: seine Selbstachtung.
Es gebe beim besten Willen keine Stelle für ihn, wiederholt Howard.
LOMAN: Alles, was ich brauche, um zurechtzukommen, sind fünfzig Dollar die Woche.
Wenn man vorher noch von einem Bitten sprechen konnte: Jetzt ist es ein Betteln. Und dann erzählt er Howard, der das nicht hören will, von einem legendären Handlungsreisenden, seinem Vorbild, der in ihm seinerzeit den Wunsch entstehen ließ, auch Verkäufer zu werden. Heute, sagt er gegen Ende der Erzählung, sei alles anders. Und dann fällt der verzweifelte Satz:
LOMAN: Keiner kennt mich mehr.
HOWARD: Das ist es ja, Willy.
LOMAN: Wenn ich vierzig Dollar die Woche hätte – das ist alles, was ich brauche. Vierzig Dollar, Howard.
HOWARD: Junge, woher nehmen und nicht stehlen …
Die Summe noch einmal zu unterbieten, ist unmöglich. Es ist nicht nur so, daß Loman von einem noch geringeren Einkommen definitiv nicht leben könnte. Es ist so, daß jedes Betteln irgendwann ein Ende hat – daß fortfahren mit einem Rest an Selbstachtung nicht mehr verträglich wäre. Was kann Loman noch tun? Er kann zu einem moralischen Angriff übergehen:
LOMAN: Ich habe dieser Firma vierunddreißig Jahre geopfert, Howard, und heute kann ich nicht einmal meine Versicherung bezahlen! Du kannst die Zitrone nicht auspressen und dann die Schale wegwerfen – ein Mensch ist doch kein Abfall!
Auch hier ist etwas beklemmend. Was ist es? Es ist die Tatsache, daß der Zuschauer weiß: Howard ist nicht der Mann, den ein solcher Ausbruch und ein solcher Appell zu rühren vermöchten. Und wiederum wird die Beklemmung gesteigert, weil wir wissen: Auch Loman weiß das. Seine Worte haben deshalb gar keinen wirklichen Adressaten, sie sind von vornherein wie in den Wind gesprochen. Und es ist schlimmer, als wenn er draußen im Wind stünde und die Worte in den Raum hinaus schriee. Draußen käme ihm kein menschliches, demütigendes Schweigen entgegen.
Um Gefühle betteln
Es kann geschehen, daß man aus der Einsamkeit heraus zu jemandem sagen möchte: Warum empfindest du nicht mehr für mich. Nicht nur: warum zeigst du mir deine Empfindungen nicht. Sondern: warum hast du sie nicht. Nicht als Vorwurf, sondern aus dem verzweifelten Wunsch heraus, erlöst zu werden aus der Einsamkeit.
Es ist eine unmögliche Bitte: Über seine Gefühle kann man nicht auf diese Art bestimmen, man hat sie nicht in der Hand und kann sie nicht befehligen. Gefühle sind unverfügbar. Es ist deshalb schlimmer als bei der Bitte um Arbeit, Essen oder Unterkunft: Die kann man gewähren, das liegt im Bereich des Willens. Die Bitte, man möge etwas empfinden, macht dieses Empfinden unmöglich: Jetzt geht es erst recht nicht. Jeder weiß das. Wer trotzdem um Gefühle bettelt, verleugnet diese Einsicht. Die Einsamkeit und Verzweiflung, für sich genommen, bringen die Würde nicht in Gefahr. Auch nicht die Tatsache, daß man sie zum Ausdruck bringt. Wenn es hier eine Gefahr für die Würde gibt, dann liegt sie in einem Betteln, von dem der Bettelnde im Grunde seines Herzens weiß, daß es etwas Unmögliches verlangt. Er erlebt und zeigt darin eine Abhängigkeit und Ohnmacht, die ihn als selbständige Person insgesamt in Frage stellen. Und das unter dem Blick eines Anderen.
Ich stelle mir ein Paar vor: Bernhard und Sarah Winter. Sarah hat ihren Mann am Sonntag abend ins Krankenhaus gebracht. Es war eine schweigsame Fahrt. Bernhard wußte, warum er selbst
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