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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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erleben wir es bei einer Sucht, durch die wir unsere innere Selbständigkeit einbüßen. Ich urteile, daß der Alkohol oder das Spielen, aber auch eine zerstörerische Arbeitswut, aufhören müssen. Daß ich so nicht weiterleben will. Die Ohnmacht des inneren Zwangs besteht darin, daß der Vorsatz nichts nützt: daß ich den Willen nicht zu lenken vermag und er gegen bessere Einsicht die Oberhand behält. Das Überlegen des Süchtigen läuft leer, es ist wie ein Rad, das nichts bewegt. »Ich kann nichts dagegen machen«, sagt der Alkoholiker, der vergeblich gegen seine Sucht ankämpft, »ich kann meinen verdammten Willen zu trinken einfach nicht kontrollieren.« Er ist nicht Herr im eigenen Haus, nicht der Urheber, sondern der Spielball seines süchtigen Willens. Manchmal sprechen wir hier auch von Willensschwäche und meinen damit: Der Süchtige hat nicht die Kraft, die Sucht zu besiegen und dem einsichtsvollen Wollen Autorität zu verschaffen.
    Weil der zwanghafte Wille unkontrollierbar ist, bleibt er unbelehrbar durch Erfahrung: Ich erlebe ihn als gleichförmiges, monotones Wollen. Die Selbständigkeit meines Denkens und meiner Erfahrung, die ihn plastisch machen könnte, überträgt sich nicht auf ihn. Auch als fremd kann man den unselbständigen Willen beschreiben: Ich erlebe ihn nicht als zu mir gehörig, er wuchert in mir als Fremdkörper. Und diese Fremdheit kann man auch als Ohnmacht erleben: Der zwanghafte Wille ist stärker als ich, er kommt über mich und ist wie eine innere Lawine. Die Zukunft meines Wollens und Entscheidens ist nicht offen, denn ich habe die Hand nicht am Steuer. Ich kann nicht eingreifen, so daß der Wille fortan eine andere Richtung nähme. Der zwanghafte Wille trägt mich unbeugsam und mit eherner Gleichförmigkeit immer in die eine Richtung weiter: Ich bin in meinem Wollen wie versteinert, und die Zukunft wird genau so sein wie die Vergangenheit.
    Es ist eine Erfahrung der Unselbständigkeit und inneren Unfreiheit. Und sie wird begleitet vom Gefühl, daß die eigene Würde in Gefahr ist. Es ist das, was dem Alkoholiker vielleicht am meisten zu schaffen macht: daß seine Würde, die in der früheren Selbständigkeit und Stärke seines Willens begründet lag, unaufhaltsam zerfällt. Dabei gilt, was ich schon beim selbständigen Denken sagte: Die Würde der inneren Selbständigkeit ist nicht ans Gelingen geknüpft, sondern an das Bewußtsein vom Ziel und an die Anstrengung. Nicht dem mangelt die Würde, dem die Selbständigkeit im Willen vorübergehend mißlingt. Jeder kann leicht in den Strudel einer Sucht oder eines anderen widerspenstigen Willens geraten. Das allein untergräbt die Würde noch nicht. Sie geht erst dann verloren, wenn die Selbständigkeit als Ziel aus dem Blick gerät. Wenn einer sich darum einfach nicht mehr kümmern mag. Wir haben dafür Worte, die ebenso schrecklich wie treffend sind: »Er hat sich aufgegeben.«

Innere Selbständigkeit: Affekte
     
    Was kann es heißen, in seinen Affekten selbständig zu sein? In seiner Angst, seinem Zorn, seinem Haß, seiner Eifersucht? Gibt die Idee der Selbständigkeit hier überhaupt einen Sinn? Wir können Affekte nicht einfach anstellen und abstellen. Sie sind nicht frei verfügbar. Darin selbständig zu sein, kann deshalb nicht bedeuten: entscheiden, wann wir welche Affekte haben. Doch was kann es sonst heißen?
    Wir können uns fragen, ob unsere Affekte der Situation angemessen sind: ob sie zu der Situation und ihrer Geschichte passen . Denn wir möchten nicht von Affekten bestimmt und getrieben werden, die jeder Grundlage entbehren: Das ließe die Affekte wie ein Gefängnis erscheinen. Habe ich wirklich Grund, vor einer Entlassung Angst zu haben, vor einer Infektion, vor einem Erdbeben? Oder bin ich das Opfer von Panikmache? Richtet sich mein unbändiger Zorn oder mein Haß gegen den Richtigen? Ist das Gefühl überhaupt angemessen? Oder kann, genau besehen, gar niemand etwas dafür? Und meine Eifersucht: Stimmt es wirklich, daß ich betrogen werde? Oder bilde ich es mir nur ein? Mit solchen Fragen können wir einer Unselbständigkeit des Empfindens im Sinne einer Täuschung entgegenwirken: Wir möchten in unseren Affekten nicht das Opfer von lauter Irrtümern sein. Vielleicht könnte man von einer Autorität im Empfinden sprechen: Wir möchten sicher sein, daß wir angemessen empfinden. Und wir können etwas für diese Autorität tun, was auf der Selbständigkeit im Urteilen beruht: uns über den wirklichen oder

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