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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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nicht leisten, den anderen zum Teufel zu schicken.
    Der Drogendealer und der Begleiter meiner Angst sind austauschbar. Ich bin jemandem in diesem Fall nur in seiner Funktion hörig: in seiner Fähigkeit, mir zur Befriedigung meines Bedürfnisses zu verhelfen. Es könnte auch eine andere Person sein. Doch die Hörigkeit kann auch einer bestimmten Person gelten: Es ist sie und nur sie, der meine übermächtige, zwanghafte Begierde gilt. Dann sagen wir: Ich bin ihr verfallen . Sie kann mit mir machen, was sie will. Meine innere Versklavung verleiht ihr grenzenlose Macht über mich, und darin liegt der Verlust meiner Würde.
    So ist es, wenn der Collegeprofessor Humbert Humbert in Vladimir Nabokovs Roman Lolita mit dem Mädchen monatelang ziellos durch Amerika fährt: Sein einziges Ziel ist, seine Lust an ihr zu befriedigen, und dafür läßt er sich ihre grenzenlose Launenhaftigkeit gefallen und die endlosen Erpressungen, was das Taschengeld betrifft. Es ist eine Geschichte über den Verlust von Würde durch Hörigkeit.
    Eine solche Geschichte erzählt auch Heinrich Mann in Professor Unrat . Der überkorrekte, verstaubte Gymnasialprofessor Raat, der sein Leben einer Abhandlung über die Partikel bei Homer gewidmet hat, verfällt der Variété-Künstlerin Rosa Fröhlich, die mit ihm machen kann, was sie will – er läßt alle Demütigungen geschehen und genießt sie auch noch. »Die Künstlerin Fröhlich zeigte sich ihm bald ungeduldig und bald freundlich. Und es brachte ihn aus dem Geleise, wenn sie sich mit unvorhergesehenem Ruck auf ihre Freundlichkeit besann. Dann ward sie auf einmal gesetzt, mit der Miene, die man aufsetzen muß, wenn man bei einem ernsten Mann was machen will. Aber bald schob sie ihn wieder vom Stuhl fort wie einen Packen Unterröcke. Einmal gab sie ihm sogar einen Backenstreich. Darauf zog sie hastig ihre Hand zurück, betrachtete sie, roch daran und versetzte starr: ›Sie sind ja fettig.‹ Er errötete, hilflos. Und sie brach aus: ›Er schminkt sich! Nu schlag einer lang hin! Er lernt es heimlich an sich selbst! O Sie – Unrat!‹ Unrat machte ein entsetztes Gesicht. ›Jawoll: Unrat!‹ Sie tanzte um ihn her. Und darauf lächelte er glücklich.« Es nützt nichts und wirkt wie unfreiwillige Komik, wenn er sagt: »Meine Würde gehört mir selbst ganz allein.« Denn längst hat seine Hörigkeit das wohlgeordnete Leben zersetzt. Er schreibt sogar Liebesbriefe auf der Rückseite von Blättern aus seinem Werk über Homers Partikel. »Er sah auf einmal seine Arbeitskraft ganz ihr untergeordnet, seinen Willen schon längst nur noch auf sie gerichtet und alle Lebensziele zusammenfallen in ihr.«
    Humbert Humbert und Professor Unrat erleben eine Hörigkeit, bei der ein Konflikt zwischen innerer Zensur und dem unbeherrschbaren Impuls spürbar bleibt. Die Hörigkeit läßt die Zensur als innere Instanz intakt. Es gibt den aufflackernden Kampf gegen den Impuls, und in diesem Kampf liegt ein Rest von Würde. Solange der Kampf dauert, erlischt sie nicht ganz.
    In einer anderen, umfassenden Form von Hörigkeit geht sie ganz verloren. Die zensierende Instanz ist hier in eine äußere Autorität verlagert worden: den Führer. Die Hörigkeit ist besonders tückisch und besteht darin, daß ich die Verlagerung gar nicht bemerke. Ich habe mich dem Führer unterworfen. Es gibt keinen inneren Konflikt mehr und nicht einmal die Möglichkeit dazu. Der Führer muß in mir keine Zensur mehr brechen. Ich folge ihm willig als dem, der die totale Autorität hat. Das ist meine Hörigkeit.
    Humbert Humbert und Professor Unrat können ihre Demütigung noch erleben , weil es in ihnen noch den Standpunkt der selbständigen Zensur gibt. Wenn ich mich an einen Führer verloren habe, bin ich das Opfer einer besonders grausamen Demütigung: Sie ist vollkommen und verschluckt mich gewissermaßen, aber ich kann sie nicht erkennen und erleben, weil es den Unterschied zwischen dem, was ich möchte, und dem, was der Führer will, nicht mehr gibt, so daß der Führer nicht als einer erlebt werden kann, der mir Ohnmacht demonstriert und mich demütigt. Die Demütigung wird erlebbar erst im Rückblick, im nachträglichen Entsetzen über meine vollständige Entmündigung.

Selbständigkeit durch Selbsterkenntnis
     
    Das Bedürfnis nach innerer Selbständigkeit ist mit dem Bedürfnis nach Selbsterkenntnis verknüpft: dem Bedürfnis zu verstehen, warum mein Erleben ist, wie es ist. Die beiden Bedürfnisse hängen zusammen, weil fehlende

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