Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
über diese Dinge haben. Die Zensur wird gelockert, die Innenwelt gegen das Dunkel hin durchlässiger: Erotische Bedürfnisse werden zugelassen, auch Angst, die wir vorher für unzulässig hielten, Wut und Empörung über Eltern und Vorgesetzte, Sehnsüchte nach Anerkennung und Applaus, nach überschäumenden Gefühlen und entgrenzenden Erfahrungen. Nun schaffen wir uns eigene Regeln für Zulässiges und Verbotenes. Es geht darum, das überkommene Selbstbild, entstanden wie durch Osmose, in seinen Umrissen zu erkennen und übersichtlich zu machen, zu überprüfen und neu zu weben. Eine neue Autorität in diesen Dingen zu entwickeln. Das ist auch ein Bildungsprozeß: Wir lernen, daß es anderswo auf der Welt, in anderen Kulturen, andere Maßstäbe gibt, und können uns fragen, wie wir dazu stehen. Anders als zu Beginn ist unsere Autorität nun keine blinde Autorität mehr.
Auch bei Selbstbild und Zensur ist die Selbständigkeit mit der Erfahrung einer offenen Zukunft verknüpft: Ich bin nicht dazu verurteilt, mich für immer einer inneren Zensur zu beugen, die sich dem zufälligen Einfluß äußerer Autoritäten verdankt. Ich kann mir die Zukunft öffnen, indem ich die bisherige, verhärtete Zensur lockere und verflüssige und dadurch neue Arten des Erlebens möglich mache. Ich gewinne einen neuen Atem des Lebens und Erlebens. Auch in dieser Selbständigkeit liegt meine Würde. Und wieder liegt sie weniger im Gelingen als im Versuchen.
Jemand kann seine Würde verlieren, indem er die Zensur an eine äußere Instanz delegiert, an eine Institution oder einen Führer. Er gibt jedes selbständige Urteil auf und unterwirft sich dem fremden. Damit büßt er am Ende jede Autorität über sein Leben ein. Solange er selbst die zensierende Instanz war, verlief der Konflikt zwischen Zensur und Impuls in ihm. Jetzt wird er als Konflikt zwischen ihm und dem Führer erlebt. Das bedeutet eine selbst vollzogene Entmündigung mit einem vollständigen Verlust von Würde. Menschen, denen das zugestoßen ist und die später wieder zu sich finden, berichten von vielfältigem Unglück: Ohnmacht, unterdrückte Auflehnung, blinder Gehorsam. Viele sagen, das Schlimmste sei der Verlust der Selbständigkeit im eigenen Urteil gewesen, erlebt als ein Verlust der Würde. Es war, sagen sie, als wären sie die ganze Zeit über gar nicht dagewesen.
Demütigung durch Hörigkeit
Wenn es nicht gelingt, das Wollen durch das Urteilen zu lenken, ungeliebte Affekte zu kontrollieren und über die innere Zensur selbst Regie zu führen, so ist das eine Erfahrung der Ohnmacht. Manchmal sprechen wir hier auch von Demütigung. »Es ist so demütigend , daß ich es nicht schaffe!«, mag der Süchtige sagen. Doch nach unserem Verständnis ist seine Ohnmacht nicht von sich aus schon eine Demütigung: Es gibt keinen Akteur, der ihn die Ohnmacht genußvoll spüren läßt. Zu einer Demütigung wird eine innere Unfreiheit erst dadurch, daß sie uns von jemandem abhängig macht. Nicht nur, daß wir gegen das zwanghafte Bedürfnis nicht ankommen – wir hängen auch noch vom Willen und der Willkür desjenigen ab, der es befriedigen kann. Der Drogensüchtige ist nicht nur seiner Sucht gegenüber hilflos, sondern auch dem Dealer und seinem Wohlwollen gegenüber. Und wenn ich aus krankhafter Angst das Haus nicht mehr allein verlassen kann, fühle ich mich ohnmächtig nicht nur, weil ich die Angst nicht beherrschen kann, sondern auch, weil ich von einem Begleiter und seinen Launen abhängig bin. Die Demütigung wird vollständig, wenn man meine Abhängigkeit ausnutzt und sich daran ergötzt. Der Drogendealer demütigt mich, indem er mir, um den Preis zu erhöhen, das Päckchen mit dem weißen Pulver grinsend hinhält und es zurückzieht, wenn ich danach greifen will. Und mein Begleiter kann mich demütigen, wenn er mich willkürlich warten läßt oder auf der Straße plötzlich wegläuft, um mich in meiner Angst erstarren zu sehen. Vielleicht steigt dann auch der Preis für die Begleitung.
Abhängigkeit durch inneren Zwang nennen wir Hörigkeit . Ich brauche einen anderen, um mein Bedürfnis, gegen das ich vergeblich ankämpfe, zu befriedigen. Es ist eine äußere Versklavung durch eine innere Versklavung. Der andere führt über mich Regie wie über eine Marionette, indem er mit den abgelehnten, doch nie besiegten Impulsen spielt. Man könnte sagen: Er konsumiert meine Unfreiheit. Und der Hörige ist stets erpreßbar: Wie hoch der Preis auch wird – er kann es sich
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