Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
eines Tages, wie mein Nachbar eine Schachtel Neuroleptica bekam. Er sah, daß ich es bemerkte, und senkte beschämt den Blick. »Diese blöden Stoffwechselstörungen!«, sagte ich. »Einfach lächerlich! Einmal spielt die Leber verrückt, dann das Gehirn, und dann …« Verblüfft sah er in mein lachendes Gesicht. Dann lachten wir zusammen und gingen einen Kaffee trinken. Das machen wir seither öfter. Zur Würde eines Menschen gehört die Einsicht, daß alle innere Selbständigkeit zerbrechlich ist, auf Sand gebaut. Diese Einsicht kann ein kostbares Gefühl der Solidarität entstehen lassen.
Würde durch Arbeit
In Tunesien, wo jeder Zweite arbeitslos ist, kann man Transparente sehen: Pas de dignité sans emploi! Ohne Arbeit keine Würde! Die verzweifelten Worte leuchten unmittelbar ein. Doch wie genau ist der Zusammenhang?
Wer seine Arbeit verliert, kann das Gefühl haben, daß damit auch seine Würde in Gefahr gerät. Er muß sein Büro räumen, seinen Schreibtisch, seinen Spind, er muß Schlüssel abgeben, Dienstmarke, Arbeitskleidung. Er steht vor dem Fabriktor, dem Geschäft, dem Bürohaus und blickt hinüber: Jetzt gehört er nicht mehr dazu. »Draußen warten eine Menge Leute auf mich«, sagt Howard zu Willy Loman, nachdem er ihn entlassen hat. »Setz dich hin, nimm dir fünf Minuten, und dann reißt du dich zusammen und gehst nach Hause, okay? Ich brauche das Büro, Willy. Ach, ja: Wann immer es dir diese Woche paßt – komm vorbei und liefere die Muster ab.« Es wird in Loman viele Empfindungen geben: Angst, die Rechnungen nicht mehr bezahlen zu können; Wut über Howards Kaltschnäuzigkeit; das beklemmende Gefühl, nicht mehr zu wissen, was er mit seiner Zeit anfangen soll; Scham Linda gegenüber, den Nachbarn gegenüber, die ihn zu ungewohnter Zeit im Garten sehen. Von alledem verschieden wird die Empfindung sein, daß seine Würde in Gefahr ist. Wovon handelt diese besondere Empfindung?
Was Loman verliert, ist die Selbständigkeit . Er kann das Leben nicht mehr selbst verdienen. Er ist auf Unterstützung angewiesen. Vielleicht durch die Wohlfahrt, vielleicht durch Linda, die putzen geht. Arbeit schafft Würde im Sinne von materieller Selbständigkeit. In diesem Sinne ist jede Arbeit besser als keine Arbeit. Auch wenn sie darin besteht, öffentliche Toiletten zu putzen. Vom Tag an, an dem man sein erstes Geld verdient, ist man ganz anders in der Welt, der Gang ist ein anderer. Und es ist kein Zufall, daß die Transparente der Tunesier von emploi sprechen, also eigentlich von Anstellung, und nicht einfach von travail , also Arbeit. Denn worauf es ankommt, ist nicht einfach, daß einer irgend etwas arbeitet, sondern daß er Arbeit hat, die bezahlt wird. Damit er nicht in Abhängigkeit und steter Dankbarkeit leben muß. Damit er, zumindest was Geld betrifft, Herr seines Lebens ist.
Doch Selbständigkeit ist nicht das einzige, worum es geht, wenn wir Arbeit wollen. Es geht auch um die Erfahrung, daß man stolz sein kann auf eine Leistung. Es geht um das Gefühl, durch diese Leistung etwas wert zu sein. Wenn Loman den Koffer mit den Mustern abgibt und nach Hause schleicht: Es wird ihm vorkommen, als sei er jetzt nichts mehr wert. Er wird das in den Augen der Nachbarn lesen, und er wird es auch vor sich selbst spüren. Diese Erfahrung kann man von der Frage des Geldes ablösen. Wir können uns vorstellen, daß Loman und Linda eine Erbschaft gemacht haben. »Aber das macht doch nichts«, sagt Linda, als er entlassen wird, »wir brauchen das Geld nicht.« Natürlich wird vieles dadurch leichter. Die Entlassung tut trotzdem weh. Denn was sie ihm wegnimmt, ist Anerkennung : die Möglichkeit, sich in der Wertschätzung der anderen zu spiegeln und dadurch ein Gefühl für den eigenen Wert zu bekommen. Darum geht es auch, wenn einer arbeiten möchte, um Teil einer Gemeinschaft zu sein und etwas zu einem Vorhaben beizutragen: Der Wunsch nach solcher Zugehörigkeit ist der Wunsch, durch die eigene Leistung als wertvolles Mitglied der Gemeinschaft gebraucht und anerkannt zu werden. Auch das ist eine Erfahrung der Würde.
Arbeit trägt zur Würde nicht nur durch Selbständigkeit und Anerkennung bei. Es geht auch darum, daß wir uns mit unseren Fähigkeiten entfalten und uns damit als Person insgesamt entwickeln können. Es gibt Arbeit, wo man ganz bei sich ist, fast wie im Spiel. Es ist eine Arbeit, in der man selbst zu Wort kommt. Am anderen Ende der Skala liegt die Arbeit, die man als Fron erlebt: Man tut sie
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