Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
innere Selbständigkeit mit dem Eindruck einhergeht: Ich verstehe nicht, warum es diese zwanghaften Gedanken, diese sonderbaren Affekte und diesen widerspenstigen Willen in mir gibt, die ich nicht zu kontrollieren vermag. Wir spüren: Es geht darum, daß wir nicht durchschauen, wie sie in unserer Lebensgeschichte entstanden sind und auf welch vertrackte Weise sie in unsere Gegenwart hineinragen. Nur dieser Art von Verständnis könnte es gelingen, uns die mangelnde Selbständigkeit und die verlorene innere Autorität zurückzugeben.
Dabei kann uns die Einsicht helfen, daß es in unserem Leben viel mehr an Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, Phantasien und Wünschen gibt, als es den Anschein hat. Wir sind nur mit einem Teil unserer Innenwelt vertraut. Ein anderer Teil liegt im dunkeln. Wenn wir ratlos erleben, wie uns unverstandenes Erleben bedrängt, kann der entscheidende Schritt sein, nach seiner Herkunft in den weniger bewußten Bezirken des seelischen Geschehens zu suchen. Es kommt darauf an, denjenigen Unterströmungen des Fühlens, Wünschens und Vorstellens auf die Spur zu kommen, die unser Leben bestimmen, ohne daß wir es wissen. Wenn uns das gelingt, wird aus unbewußtem seelischen Geschehen bewußtes Erleben. Dazu gehören zunehmende Wachheit nach innen, sprachliche Artikulation und ein lebensgeschichtliches Verstehen, durch das die verborgene Logik und Dynamik verdrängter und zugeschütteter Motive ans Licht kommen. Am Ende kenne ich mich in mir selbst besser aus. Und es bleibt nicht beim Auskennen. Die wachsende Selbsterkenntnis kann zu befreienden Veränderungen und größerer innerer Selbständigkeit führen. Der zwanghafte Wille und die unverständlichen, unkontrollierbaren Affekte werden, einmal aufgeklärt, besser beherrschbar und lösen sich vielleicht ganz auf. Sie sind überflüssig geworden. Vieles am Erleben, was früher wie ein Fremdkörper erschien, verliert durch das wachsende Verstehen seine Fremdheit und kann in die Person integriert werden. Es kann angeeignet und zu einem ausdrücklichen Teil der seelischen Identität gemacht werden. Und diese Aneignung bedeutet, daß es meine innere Autorität nicht länger bedroht.
Wenn es einem gelingt, den Radius der Selbsterkenntnis nach innen zu vergrößern, verringert sich die Gefahr der Ohnmacht und Demütigung. Ich werde jetzt weniger leicht Opfer von Abhängigkeit, Erpreßbarkeit und Hörigkeit. Denn die inneren Zwänge, aus denen die äußere Versklavung hervorging, hatten nur so lange Bestand, als die Triebkräfte im verborgenen lagen. Wenn ich sie vor mich bringen und im Zusammenhang verstehen kann, schwindet ihre Macht. Ich gewinne meine innere Autorität zurück. Und damit meine Würde.
Eine Therapie brauchen
Es kann geschehen, daß ich mit meinem Leben in eine seelische Sackgasse gerate. Die Konflikte mit der Familie, den Kindern, dem Lebenspartner, vielleicht auch mit den Kollegen bei der Arbeit, werden immer bedrängender, und auch die Freunde werden weniger. Früher, da konnte man darüber reden, und dann ging es irgendwie weiter. Seit einiger Zeit hilft Reden nicht mehr. Was gesagt wird, ist nur noch Ausdruck der Konflikte und verschärft sie noch. Ich weiß nicht mehr weiter. Ich spüre, und man sagt es mir auch: Ich brauche Hilfe, ich brauche eine Therapie. Der Gedanke bedeutet einen Einschnitt und eine Erschütterung. Ich zögere. Welche Empfindungen liegen auf dem Grunde dieses Zögerns? Und was haben sie mit Würde zu tun?
Es bedeutet, daß ich es nicht allein schaffe. Das verstößt gegen das Bedürfnis nach Selbständigkeit. Doch was für eine Selbständigkeit meine ich damit? Hatte ich sie früher, als es ohne Therapie ging? Gibt es diese Selbständigkeit überhaupt?
Was durch die Krise in Gefahr gerät, ist die Vorstellung, ich könnte in meinem Innern alles selbst beeinflussen und bereinigen. Ich könnte in meiner Innenwelt der allmächtige Drehbuchschreiber und Regisseur sein und das lebenslange Drama meiner Seele ganz allein schreiben. Natürlich weiß ich: Dieses Drama hängt auch davon ab, was von außen auf mich zukommt, durch die Welt, durch die anderen. Aber wie ich gedanklich und im Erleben darauf reagiere – darüber bestimme ich allein, da brauche ich keine Krücken und keine Helfer. Es kann schon sein, daß Dinge passieren, die mich überwältigen und die ich nicht sofort unter Kontrolle bringen kann. Aber am Ende finde ich mich allein zurecht.
Es wäre kränkend , sich eingestehen zu müssen, daß es
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