Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
so nicht ist. Die Kränkung wäre größer, als wenn ich sonst um Hilfe bitten müßte, um Geld oder andere Unterstützung. Viel eher als zum Therapeuten – mag ich denken – gehe ich noch aufs Sozialamt oder stelle mich als Bettler an die Ecke. Denn all das betrifft nur äußere Dinge und läßt mir die Gewißheit, daß ich dort, wo es wirklich darauf ankommt, nämlich im Inneren, selbständig bin. Und es wäre ja nicht nur mangelnde Selbständigkeit, mangelnde seelische Autarkie, die ich mir mit dem Gang zum Therapeuten eingestehen müßte. Auch mangelnde Selbsterkenntnis müßte ich anerkennen. Ich müßte einräumen, daß ich mein Leben teilweise als Unwissender lebe, als einer, der gerade auf demjenigen Territorium ein Umherirrender ist, das für jeden das wichtigste Territorium ist: sein Leben.
Die Kränkung ist vielleicht unvermeidlich. Was man jedoch vermeiden kann, ist ein Mißverständnis: daß es sich um eine Demütigung und einen Verlust der Würde handle. Ich werde vor dem Therapeuten Schwäche und Ohnmacht offenbaren, die ich hier zum ersten Mal eingestehe, auch vor mir selbst. Doch es gibt niemanden, der daraus eine Demütigung macht, die mir die Würde wegnähme. Einer, der demütigt, führt mir die Ohnmacht vor und genießt sie. Der Therapeut lehrt mich die Schwäche sehen, doch der Rhythmus ist: Das ist bereits der erste Schritt, um die Ohnmacht zu beseitigen.
In Wirklichkeit ist es also umgekehrt: Die Arbeit mit einem Therapeuten verringert meine Ohnmacht und hilft mir, verlorene Würde durch wachsende Selbsterkenntnis zurückzugewinnen. Sie befreit mich von unfreiem Wollen, Empfinden und Tun. Die Würde im Sinne der Selbstbestimmung wächst und festigt sich. Und die Würde wächst auch in einem Sinne, von dem im vierten Kapitel die Rede sein wird: Ich lerne Lebenslügen und Selbsttäuschungen zu durchschauen und mit mir selbst wahrhaftiger zu sein. Der Gang zum Therapeuten ist Ausdruck von Würde, die Verweigerung Ausdruck von falschem Stolz, der verletzte Eitelkeit als Würdeverlust mißversteht. »Falsch« ist das richtige Wort: Es ist ein veritabler Irrtum.
In einer Praxis, wo mehrere Therapeuten arbeiten, kann es im Wartezimmer zur Begegnung zwischen Patienten kommen. Es sitzen sich Menschen gegenüber, die diese Art von Hilfe brauchen und das nun voneinander wissen. Sie haben sich ihre seelische Not, die verlorene Selbständigkeit und ihr mangelndes Wissen über sich eingestanden. Es kann eine besondere Art der Befangenheit spürbar werden. Diese Befangenheit gibt es in keiner anderen Praxis: Gesundheitliche Probleme des Körpers sind nicht Grund für Befangenheit, zumindest nicht dieser Art. Körperlich krank sein – das ist nicht kränkend, es stellt meine seelische Selbständigkeit nicht in Frage. Der Blickwechsel zwischen Patienten in einem solchen Wartezimmer ist ein besonderer. Die Blicke können scheu und ausweichend sein: »Wir haben gemeinsam, daß wir in seelischer Not sind und uns nicht mehr selbst helfen können; aber es ist am leichtesten, wenn jeder damit für sich bleibt, auch wenn wir nun zufällig hier ein paar Minuten zusammensitzen.« Doch es kann auch sein, daß man sich in den Blicken offen begegnet: »Es ist schwer, wenn man nicht mehr allein zurechtkommt, nicht wahr? Ich bin froh zu sehen, daß es anderen auch so geht. Irgendwie erleichtert es.« Oder vielleicht sagen die Blicke sogar: »Wir haben also beide diesen Schritt getan – und können darauf stolz sein, denn wir haben die Verantwortung für uns übernommen.«
Plötzlich kommt ein Nachbar oder Berufskollege herein. »Sie auch?«, sage ich. »Nur ein Rat, wenige Stunden …«, sagt der Kollege. »Ach, wirklich? Ich möchte das ein paar Jahre machen«, sage ich.
Auch wenn jemand für sein seelisches Gleichgewicht auf Medikamente angewiesen ist, kann er es als demütigend empfinden. Doch auch dann ist er in einem Irrtum befangen. Es ist bedrückend und ein Verlust der Unabhängigkeit: Habe ich die Tabletten mit? Wann brauche ich das nächste Rezept? Und dann gibt es da den Blick des Apothekers, den wirklichen oder eingebildeten. Doch eine Gefahr für die Würde gibt es nicht: Alles, was seelisch mit uns geschieht, hängt von einem Geschehen im Körper ab. Bei Kaffee und Wein betrachten wir das als eine Selbstverständlichkeit. Warum ist es so kränkend, wenn das Gehirn chemische Unterstützung braucht? »Eine Stoffwechselstörung, wie bei Diabetes.« »Ja, aber …« »Aber was ?«
In der Apotheke sah ich
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