Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
erzwungenermaßen, entweder weil sie einem befohlen wird wie im Arbeitslager, oder weil es die einzige Möglichkeit ist, sein Leben zu verdienen. Das, was man tut, bleibt einem selbst äußerlich. Es ist, wie wir sagen, entfremdete Arbeit, also Arbeit, in der und durch die man sich fremd wird. Was kann das heißen?
Es gibt Entfremdung, die Würde zerstört, und solche, die es nicht tut und nur auf gewöhnliche Weise unglücklich macht. Es kann sein, daß die Arbeit meinen Fähigkeiten nicht entspricht, auch nicht dem, was ich gelernt habe, vielleicht in einem langen Prozeß der Ausbildung, die Mühe und Opfer gekostet hat. Wenn ein Ingenieur als Fliesenleger arbeiten muß oder als Lastwagenfahrer. Wenn ein Arzt nur als Altenpfleger eine Anstellung findet. Wenn einer, der Musik studiert hat, sich als Barpianist wiederfindet. Oder eine Kindergärtnerin als Klofrau. Berührt das die Würde? Nur dann, wenn es angemessene Arbeit gäbe und mich jemand durch die geringere Arbeit demütigt. Doch dann liegt es nicht an der Arbeit, sondern an der Demütigung.
Die geringere Arbeit ist entfremdet und entfremdend: Wenn sie lange dauert, verliere ich mich in meinen Fähigkeiten und der Sensibilität, die mit einer angemessenen Arbeit einhergingen. Es fehlt die Möglichkeit der Entfaltung. Aber die Erfahrung der Entfremdung in diesem Sinn ist nicht in sich schon die Erfahrung verlorener Würde. Es ist kränkend, es ist frustrierend. Aber es muß jemanden nicht in seiner Würde brechen. Es ergab sich, daß ich in der Oper bei dem Mann stehenblieb, der das Pissoir sauberhielt. Unsere Blicke trafen sich. »Ziemlich öde, diese Arbeit«, sagte ich. »Muß auch gemacht werden«, sagte er und lächelte. Das selbstbewußte Lächeln begleitete mich in die Tiefgarage. Dort spielte sich ein eitler Fatzke mit Pelzkragen auf, weil jemand seinen Jaguar touchiert hatte, ein Kratzer, kaum zu sehen. Wie würdelos er mir vorkam im Vergleich zu dem Mann im Pissoir!
Doch die Entfremdung kann so weit gehen, daß die Würde in Gefahr gerät. Vielleicht muß ich so lange malochen, daß ich gerade noch ein paar Stunden Schlaf ergattern kann und ein hastig hinuntergeschlungenes Essen. Ich verliere mich, weil es außerhalb der Schufterei gar keinen Spielraum mehr gibt für ein eigenes Leben, in dem ich mit meinen Bedürfnissen zu Wort käme. Auch mit meinem Bedürfnis, mich um mich zu kümmern, mich zu verstehen und eine Vorstellung von meinem Leben zu entwickeln – mit den Dingen also, die mich zu einem Subjekt machen. Dann wird die Entfremdung zur Entwürdigung: Ich bin nur noch eine Arbeitsmaschine. Ich bin aus purer Erschöpfung dabei, mich als Subjekt zu verlieren.
Arbeit kann mich noch in einem anderen Sinne von mir selbst entfremden: indem ich Dinge tun muß, die meinem Selbstbild widersprechen und meine Identität zerstören. Ich kann gezwungen werden, Waffen herzustellen, Drogen, gefährliche Medikamente. Ich weiß: Sie werden zahllose Menschenleben zerstören. Ich kann gezwungen werden, an Menschenversuchen teilzunehmen, für puren Profit Wälder abzuholzen, dumme und gefährliche Ideologie zu unterrichten. Das ist eine Entfremdung, die meine Würde zerstört. Man kann sie sich nebeneinander vorstellen: auf der einen Seite den abhängigen Arzt im weißen Kittel, der gezwungen wird, an Menschenversuchen teilzunehmen, oder den Lehrer, der gezwungen ist, Dinge zu predigen, an die er nicht glaubt. Sie fahren nach der Arbeit im Auto nach Hause und wohnen in einer komfortablen Wohnung. Auf der anderen Seite die Klofrau, die in einem lauten, feuchten Zimmer haust. Beide leisten sie Arbeit, die entfremdet. Im einen Fall wird dabei zusätzlich die Würde zerstört, im anderen nicht.
Und noch auf eine andere Weise kann mich Arbeit von mir selbst entfremden und dabei meine Würde beschädigen: wenn es sinnlose Arbeit ist. Wie bei den Juden, die gezwungen wurden, die Straße mit der Zahnbürste zu putzen. Oder nehmen wir an, der Arbeitslose würde vom Amt nicht dazu gezwungen, den Park zu säubern, sondern eine Hundestatistik zu erarbeiten: wie viele Hunde in den Park kommen, welche Rassen, wie oft sie das Bein heben, einen Haufen machen … Und das über Wochen und Monate.
Geld
In Alfred Anderschs Roman Die Rote bricht Franziska, die Hauptfigur, aus einer demütigenden Dreiecksbeziehung aus und fährt nach Venedig, in der Tasche nur wenige tausend Lire. Sie kann der Versuchung nicht widerstehen und trinkt in einem Luxushotel Tee. Danach spricht
Weitere Kostenlose Bücher