Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
sie den Chefportier an. »Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« »Aber bitte sehr, Signora.« »Ich möchte einen Rat von Ihnen.« »Wenn ich es kann?« »Ich bin Dolmetscherin, Italienisch, Englisch, Französisch, Deutsch. Außerdem Stenographie, Maschine und alle Sekretariatsarbeiten. Glauben Sie, daß ich eine Stellung bekommen kann? Entweder bei Ihnen oder irgendwo sonst in Venedig?« »Nicht bei uns. Nicht in der ganzen Hotelbranche, im Winter, in Venedig.« »Ich verstehe. Haben Sie im inneren Betrieb nichts frei?« »Was meinen Sie mit innerem Betrieb?« »Ich meine, ich kann auch Betten und Zimmer machen, überhaupt alles.« »Nein. Selbst wenn wir knapp an Zimmerpersonal wären, würden wir jemand wie Sie nicht einstellen.« Sie sah ihm zu, wie er eine Schublade aufzog. »Sie hatten Auslagen bei uns«, hörte sie ihn sagen. »Erlauben Sie, daß das Hotel sie Ihnen zurückerstattet.« Er reichte ihr einen Tausend-Lire-Schein herüber. »Das Entsetzen schlug ihr eine harte Röte ins Gesicht«, schreibt Andersch.
Die Geste des Portiers ist eine Demütigung, eine Demonstration von Ohnmacht, denn sie sagt: Sie können sich eigentlich nicht einmal einen Tee bei uns leisten, Sie sind arm und abhängig, fast wie eine Bettlerin.
Kein Geld zu haben, bedeutet den Verlust von Selbständigkeit. Es bedeutet Ohnmacht und Abhängigkeit. Und der Mangel bringt die ständige Gefahr der Demütigung mit sich. Geld bedeutet äußere Selbständigkeit – diejenige, die Franziska und Willy Loman nach der Kündigung nicht besitzen. Diese Selbständigkeit hat eine Seite, die für die Erfahrung der Würde von besonderer Bedeutung ist: Man kann sagen, was man will. Umgekehrt ist man durch weniges so erpreßbar wie durch Geld: »Wenn du nicht …, dann bekommst du kein Geld mehr.« Wenn diese Erpressung dazu führt, daß ich mich in dem, was ich denke und fühle, verstecken und verbiegen muß, dann kann eine Bedrohung der Würde entstehen, die mich ersticken läßt. Oft, wenn Vertreter einer Institution, einer Firma oder einer Partei vors Mikrophon treten, hat man dieses beklemmende Gefühl: Die müssen das jetzt sagen – oder sie sind ihren Job los. Es kann sein, daß einer von ihnen kurz darauf für eine andere Institution vors Mikrophon tritt und das genaue Gegenteil sagt – jetzt erpreßt ihn ein anderer Geldgeber. Man spürt: Das ist schlimmer als putzen müssen. Weil sich die Unselbständigkeit und Abhängigkeit nach innen gefressen haben, hinein in die Worte, die Behauptungen und am Ende sogar in die Überzeugungen. Wegen Geld. Das ist wie ein Gift, das die Würde zersetzt. Es gibt Leute, die darüber krank werden.
Weil Abhängigkeit durch Geld uns auch im Inneren vergiften kann, möchten wir keine Schulden machen. Geschäftlich schon, aber nicht privat. Das Gift ist das Gefühl, jemandem nun verpflichtet zu sein. Man ist befangen und traut sich nicht mehr alles, was man früher gesagt und getan hätte. Es kann sein, daß man sogar im Fühlen unfrei wird. »Hast du vergessen, daß du mir Geld schuldest? Daß ich dir aus der Patsche geholfen habe?« Das ist die Frage, die wir nun ständig fürchten.
Warum kann Geld Liebe und Freundschaft zerstören? Weil die Empfindungen, die dazugehören, Symmetrie voraussetzen, die Begegnung Selbständiger. Und weil die Empfindungen sich verfärben, wenn Geld, indem es Abhängigkeit und Befangenheit schafft, dieses Gleichgewicht bedroht.
Diese stets lauernde Gefahr macht es schwierig, jemandem Geld anzubieten, zu leihen oder zu schenken. Es ist vermintes Gelände. Denn es ist immer mit dem Gedanken verbunden: Der andere schafft es nicht allein – und der andere weiß von diesem Gedanken. Wie verhindere ich, daß er sich in seiner Würde beschädigt fühlt? Natürlich werde ich jedes Wort und jede Geste der Demütigung vermeiden. Aber reicht das? »Es ist doch nur Geld!« Auch das reicht nicht. Und kann das Gegenteil bewirken. Warum ist es leichter, jemandem die Papiere und die Schlüssel für das schrottreife Auto in die Hand zu drücken als ein Bündel Banknoten?
Auch durch maßlose Großzügigkeit kann man jemandes Würde in Gefahr bringen, weil sie ihn kleinmacht und den Stolz seiner eigenen Anstrengung unterspült. Es gibt eine vernichtende Großzügigkeit. Sie kann einen stören, weil sie Ausdruck von Großkotzigkeit ist: Guck mal, was ich mir leisten kann! Dann ist es nur abstoßend. Es kann aber auch die Würde berühren: Guck mal, wie klein du im Vergleich zu mir bist! Was
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