Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
für ein armes kleines Würstchen. Dann wird man die Scheine vor seinen Augen in den Gully werfen. Und zu Hause mit Genuß den Rest Linsensuppe warm machen, der von gestern übrig ist.
Geld bedroht die Würde auch dann, wenn es als Ersatz für Aufmerksamkeit, Anteilnahme oder Zuneigung gegeben wird. Es ist dann billiges Geld. In Montauk berichtet Max Frisch: »Einem Maler, der gern seinen Wein trinkt und mit dem Verkauf seiner Bilder wenig Glück hat, schicke ich zum sechzigsten Geburtstag sechzig Flaschen von seinem Wein. Er habe die Flaschen alle zerschlagen oder verschenkt, sagt er später. Ich bin im Ausland gewesen, daher nicht an seiner Vernissage, aber ich habe auch nicht einmal einen Brief geschrieben. Sechzig Flaschen, das gibt ein Millionär im Vorbeigehen aus wie einen Batzen! Ich verstehe seinen Zorn. Hätte ich nicht das Geld, so hätte ich vielleicht auch nicht geschrieben; es hätte ihn aber nicht verletzt.«
Und noch einen Zusammenhang zwischen Geld und Würde kann man sehen: Wenn Geld darüber hinaus, daß es Tauschmittel ist, zum Selbstzweck und Fetisch wird, kann man das als würdelos empfinden. Das zeigt sich, wenn um Geld gestritten wird. Natürlich wird oft darüber gestritten, weil es Selbständigkeit, Freiheit und Annehmlichkeit bedeutet. Doch es gibt auch einen Streit um Geld, in dem es um etwas anderes zu gehen scheint als um das, was man mit ihm kaufen könnte. Dieser Streit kann besonders verbissen und erbittert geführt werden, und er kann einen rätselhaft anmuten. Denn es scheint einzig und allein um diese eine Sache zu gehen: Geld .
2.
Würde als Begegnung
Die Würde eines Menschen liegt nicht nur darin begründet, daß er selbst über sein Leben bestimmen kann und in diesem Sinne selbständig ist. Sie liegt auch in der Art seiner Beziehungen zu anderen Menschen begründet: darin, wie er ihnen begegnet, und darin, wie sie ihm begegnen. Das hat den Klang der Selbstverständlichkeit. Doch so ist es nur, wenn wir uns von den vertrauten Worten treiben lassen und annehmen, daß die Vertrautheit ganz von selbst auch Verstehen bedeutet. Wenn wir dagegen innehalten, einen Schritt hinter die geläufigen Worte zurücktreten und uns fragen, was genau sie bedeuten, bemerken wir, was es da alles nachzufragen und aufzuklären gilt. Denn was ist das eigentlich: eine Begegnung zwischen Menschen?
Wenn Subjekte sich begegnen
Wenn Menschen sich begegnen, begegnen sich Subjekte in dem Sinne, in dem wir uns das zu Beginn des ersten Kapitels zurechtgelegt haben. Was ergibt sich daraus für die Natur einer Begegnung? Wie treten sich Subjekte gegenüber? Was für Arten von Beziehungen können zwischen ihnen entstehen?
Jeder Mensch ist, wie wir sagten, ein Zentrum des Erlebens. Davon gehen wir mit spontaner Selbstverständlichkeit aus, wenn wir jemandem begegnen. Die intuitive Annahme prägt jede Begegnung mit einem Subjekt und unterscheidet sie von jeder Begegnung mit einem bloßen Ding. Ähnlich spontan und selbstverständlich ist die Annahme, daß das Erleben eines anderen in seinen Handlungen zum Ausdruck kommt. Wir betrachten ihn als Urheber von Handlungen, für die es in seinem Erleben Motive gibt. Diese Annahme gibt für eine Begegnung ein erstes Muster vor: Wir betrachten sein Verhalten als sinnvolles Tun, das wir verstehen können, indem wir ihm bestimmte Motive zuschreiben. Und auch in dieser Hinsicht betrachten wir ihn als ein Wesen, das uns selbst ähnlich ist. Denn diesem Muster des Verstehens folgen auch wir selbst: Wir erklären, was wir tun, indem wir sagen, was wir erleben.
Wir brauchen die Motive hinter dem Tun der anderen nicht nur zu erschließen . Sie können uns Geschichten über ihre Motive erzählen , und wir können einen anderen als Gravitationszentrum seiner Motivgeschichten verstehen: Als Subjekt ist er derjenige, von dem diese Geschichten handeln und um den sie immer wieder kreisen. In ihnen erklärt er uns, wie er wurde, was er ist, und was er mit sich vorhat. Manchmal hören wir diesen Geschichten zu, als seien sie neutrale Berichte über eine erlebte Vergangenheit, über Erfahrungen der Gegenwart und über eine geplante Zukunft. Doch wir haben im Laufe der Zeit gelernt, daß diese Berichte oft weniger Tatsachen ausdrücken als ein Selbstbild : daß es sich um Geschichten handelt, aus denen die Stimme der inneren Zensur spricht, und um Geschichten, die dazu gedacht sind, für die anderen in einem bestimmten Licht zu erscheinen. Es gibt darin Elemente des
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