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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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Schlimmste wäre, gekränkt zu reagieren. »Als ich heute morgen ins Auto steigen wollte, bin ich aus Versehen unter ihm durchgelaufen!«, könnte Loman sagen. Ließe sich das Blatt so zu seinen Gunsten wenden?
    Selbstironie ist wirksamer als ein Faustschlag, der die Ohnmacht nur unterstreicht. Doch wenn sich die anderen entschlossen haben, mich als Person im Ganzen auszulachen, stößt sie an ihre Grenzen. Vielleicht habe ich für ein Amt kandidiert, das ich niemals ausfüllen könnte, oder mich als Anwärter auf einen Preis bezeichnet, der zu hoch hängt. Nun lachen die anderen über mich als Angeber, der sich maßlos überschätzt. Ich könnte die Flucht nach vorne antreten und sagen: »Ich fürchte, ich bin ein ziemlicher Angeber, was? Vielleicht sollte ich für den Nobelpreis kandidieren!« Damit nehme ich Abstand von dem, den sie ausgelacht haben, denn der war ohne Distanz zu sich selbst. Ich bin durch die Selbstironie einer geworden, den man in seiner Fähigkeit der Selbstkritik wieder ernst nehmen könnte. Ich versuche, in das Lachen der anderen einzustimmen. Doch in diesem Moment verstummt das Lachen. Die Stille macht mir klar: Ich bin als Person erledigt.
    Ausgelacht zu werden, kann Haß entstehen lassen und ein Bedürfnis nach Rache. Es braucht kein lautes Lachen zu sein. Eine Andeutung genügt. Nicholas Sarkozy ließ einen langjährigen Nachrichtenmoderator des französischen Fernsehens feuern. Er hatte in einem Interview gesagt, Sarkozy käme ihm auf dem Gruppenfoto eines Gipfels ein bißchen wie ein kleiner Junge vor, der sich freut, bei den Großen dabeisein zu dürfen.

Nicht verstehen dürfen
     
    »Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.« So beginnt Franz Kafkas Romanfragment Der Proceß . Es beginnt also mit einem Geschehnis, das nicht zu verstehen ist: Ein Unschuldiger wird verhaftet. Als K. aufwacht, stellt er fest, daß Anna, die ihm sonst das Frühstück bringt, nicht gekommen ist. »Das war noch niemals geschehn.« K. läutet. »Sofort klopfte es, und ein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte, trat ein. ›Wer sind Sie?‹, fragte K. und saß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann aber ging über die Frage hinweg, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen, und sagte bloß seinerseits: ›Sie haben geläutet?‹ ›Anna soll mir das Frühstück bringen‹, sagte K. und versuchte zunächst stillschweigend, durch Aufmerksamkeit und Überlegung festzustellen, wer der Mann eigentlich war. Aber dieser setzte sich nicht allzulange seinen Blicken aus, sondern wandte sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um jemandem, der offenbar knapp hinter der Tür stand, zu sagen: ›Er will, daß Anna ihm das Frühstück bringt.‹ Ein kleines Gelächter im Nebenzimmer folgte, es war nach dem Klang nicht sicher, ob nicht mehrere Personen daran beteiligt waren. Trotzdem der fremde Mann dadurch nichts erfahren haben konnte, was er nicht schon früher gewußt hätte, sagte er nun doch zu K. im Tone einer Meldung: ›Es ist unmöglich.‹«
    Die Geschichte von Josef K. ist eine Geschichte der Ohnmacht. Und da die Ohnmacht von anderen gezielt gesetzt wird, sie das K. spüren lassen und es auskosten, daß K. bemerkt, wie sie seine Ohnmacht genießen, ist es eine Geschichte der Demütigung. Die Ohnmacht besteht nicht, wie bei Jakob von Gunten, darin, wie Luft behandelt zu werden, und sie besteht auch nicht darin, daß andere über K. reden statt zu ihm. Zwar klingen auch solche Töne der Ohnmacht an; aber sie bilden nicht den Kern der Erfahrung. Die Erfahrung ist eine neue: dadurch gedemütigt zu werden, daß man keine Chance bekommt, die eigene Lage zu verstehen .
    »Was waren denn das für Menschen? Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an? K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte ihn in seiner Wohnung zu überfallen?« Als einer, der wissen und verstehen möchte, in welcher Lage er sich befindet, und einer, der Gründe hören möchte für das, was man mit ihm macht, stellt K. die Eindringlinge zur Rede: »Von wem bin ich angeklagt? Welche Behörde führt das Verfahren? Sind Sie Beamte? Keiner hat eine Uniform.« Der demütigende Alptraum besteht darin, daß K. auf solche Fragen nie eine Antwort bekommt. Und das ist noch nicht alles. Die Erfahrung der Ohnmacht setzt sich darin fort, daß die Auskünfte, die man ihm gibt, allen Regeln von

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