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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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möchte wissen, was mit mir los ist!«, sage ich ärgerlich.
    »Ein komplizierter Fall«, sagt der Professor mit erneutem Blick in die Krankenakte.
    »Verdammt, reden Sie mit mir!«, schreie ich. »Reden Sie mit mir! Reden Sie mit mir !«
    »Warum sind diese Patienten bloß so ungeduldig!«, sagt der Professor, schüttelt den Kopf und tauscht ein Lächeln mit der Assistentin.
    Da werfe ich das Wasserglas nach ihm, es knallt gegen die Wand.
    Der Chefarzt nimmt den Arm der Assistentin.
    »Nicht beachten. Wie wär’s mit einem Kaffee?«

Auslachen
     
    Willy Loman wird nicht nur durch seine Entlassung gedemütigt. Er erfährt noch auf andere Art, daß seine Würde bedroht wird: »Das Problem ist, Linda, ich glaub’, die Leute nehmen mich nicht ernst. Ich weiß es, sobald ich reinkomme. Sie scheinen mich auszulachen. Ich kann’s mir auch nicht erklären, aber sie gehen an mir vorbei. Ich bin Luft für sie. Ich bin klein. Ich sehe richtig – lächerlich aus, Linda. Ich hab’ dir nichts gesagt, aber um Weihnachten rum sprach ich bei F.H. Stewarts vor, und gerade als ich rein zum Einkäufer gehe, höre ich einen Vertreter, den ich kenne, sagen: Knirps. Und ich – ich gab ihm eine in die Fresse. So was laß’ ich mir nicht gefallen. So was nicht! Aber sie lachen mich aus. Das weiß ich.«
    Was ist das: jemanden auslachen ? Es ist nicht dasselbe wie: über etwas Komisches lachen, das jemand tut. Das ist offensichtlich, wenn die Komik beabsichtigt war: eine Grimasse schneiden, stolpern wie ein Clown, einen Scherz machen. Wir lachen über dieses bestimmte Tun , wir lachen nicht über die Person . Dieser Unterschied bleibt auch dann bestehen, wenn die Komik unfreiwillig ist: ein lustiger Versprecher, ein Ausgleiten auf Glatteis, eine komische Verwechslung. Auch hier gilt das Lachen nur der Episode . Auslachen dagegen gilt der Person insgesamt : Nun lachen wir über jemanden im Ganzen. Anlaß kann eine mißglückte Leistung sein, ein krächzendes Vorsingen oder, wie bei Loman, ein auffälliges Aussehen. Auch das sind, an und für sich, nur Einzelheiten. Das Entscheidende am Auslachen ist, daß wir, wenn wir über sie lachen, die ganze Person in das Lachen einbeziehen. Als sei die Person insgesamt so lächerlich wie die Einzelheit. Für die Lachenden ist Loman ein Knirps und damit insgesamt lächerlich – was immer er sonst noch sein mag.
    Wenn wir jemanden in diesem Sinne auslachen, so ist das eine laute Weise, ihn nicht ernst zu nehmen. Wir entziehen ihm die Achtung und die Anerkennung. Wir nehmen ihm damit etwas weg, was ich in der früheren Analyse von Anerkennung noch nicht erwähnt habe und was jetzt nachzutragen ist: seine Autorität . Jemanden in einer Sache anzuerkennen, heißt auch, ihm darin eine Autorität zuzuschreiben: das Recht, in seinem Urteil gehört und in seinem Tun respektiert zu werden. Lachen wir jemanden aus, so ist es, als sagten wir zu ihm: »Was du sagst und tust, hat für uns kein Gewicht und keine Bedeutung mehr.« Es ist eine Entwertung der ganzen Person. Sie wird dadurch zur verlachten Figur, zur Witzfigur.
    Das Lachen schafft Ohnmacht : Gegen ein Gelächter, das einen zur Witzfigur macht, kann man sich nicht wehren. Was immer man täte, es würde ins Lachen und Verlachen einbezogen, oder es würde sogar ein neues Lachen in Gang setzen, so daß die Sache noch schlimmer würde. Nichts, was ich tun könnte, kann die anderen zwingen, das Lachen abzubrechen und mich ernst zu nehmen. Jeder Versuch ist von vornherein entwertet . Und natürlich genießen die Lachenden meine Ohnmacht und lassen mich ihren Genuß spüren: ein Fall von Demütigung. Loman wehrt sich, indem er dem anderen Vertreter die Fresse poliert. Es nützt nichts. Im Gegenteil: Für die anderen wird dadurch nur die Tiefe der Verletzung erkennbar, und sie werden sich daran weiden. »Da habe ich offenbar ins Schwarze getroffen!«, wird der Vertreter sagen und sich lachend das Blut abwischen. Und die anderen werden mitlachen.
    Nützen Humor und Selbstironie etwas? Sie helfen mir, meine Würde zu verteidigen, wenn das Lachen der anderen nur einer Ungeschicklichkeit gilt und nicht der ganzen Person: Ich lache einfach auch darüber. Das wird als Souveränität erlebt: Er nimmt sich nicht so wichtig. Wir lachen gemeinsam, und die Gefahr einer Entwertung der ganzen Person ist gebannt. Ich bringe also die nötige Distanz zu mir selbst auf und schließe mich der spöttischen Sichtweise der anderen an. Damit habe ich gewonnen. Ich spüre: Das

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