Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Gesicht des Patienten zu lesen. Es ist interessant zu beobachten, wie sich die Atmosphäre im Hörsaal verändert, wenn es dem Dozenten gelingt, den Patienten als Person zur Geltung zu bringen. Ihn in ein Gespräch über die Krankheit zu verwickeln, aus dem erkennbar wird, daß er nicht nur ein kranker Körper ist, sondern eine Person, die gelernt hat, mit ihrem Leiden souverän umzugehen. Der Blick des Patienten ist plötzlich auch freier, wenn er ins Publikum blickt. Er ist bereit für eine Begegnung. Sein Blick läßt es zu, daß auch die Studierenden ihm Fragen stellen. Ich habe Patienten erlebt, die zu Dozenten wurden, was ihre Krankheit anlangte, und den Professor korrigierten, wenn es um Fragen subjektiver Symptome ging. Einer von ihnen, der unter einer psychotischen Erkrankung litt, machte als Vorführpatient eine regelrechte Karriere. Er verwandelte jeden Auftritt im Hörsaal sofort in eine Begegnung mit dem Publikum. Es kam zu Gelächter, und er amüsierte sich am meisten. Aus der Schaustellung war eine Begegnung geworden. Die Gefahr gestohlener Würde war gebannt.
Lustobjekte
Anfang der achtziger Jahre beantragte ein Mann in Gelsenkirchen die Genehmigung für eine Peep-Show: Nackte Frauen sollten sich auf einer drehbaren Bühne den Blicken von Zuschauern darbieten, die, für die Frauen unsichtbar, in Einzelkabinen saßen und sich den Anblick der nackten Körper durch Einwurf von Münzen für einige Zeit erkaufen konnten. Der Antrag wurde als sittenwidrig abgelehnt: Er verstoße gegen die guten Sitten, weil die Frauen zu bloßen Objekten voyeurhafter Schaulust der anonymen Betrachter herabgewürdigt würden. Der Antragsteller erhob Klage und bekam in erster Instanz recht: den Frauen würden keine geschlechtlichen Handlungen abverlangt, die Betrachter seien anonym, und es gebe keinen Blickkontakt – deshalb werde die Würde der Frauen nicht verletzt. Das Bundesverwaltungsgericht entschied am Ende anders: »Die Menschenwürde ist verletzt, wenn die einzelne Person zum Objekt herabgewürdigt wird.« Eine Stripteasetänzerin, argumentierte das Gericht, bleibe, auch wenn es den Zuschauern hier ebenfalls um die voyeuristische Lust an ihrem Körper gehe, als Tänzerin ein Subjekt, das mit den Zuschauern Blicke tauschen und ihnen in diesem Sinne begegnen könne. In der Peep-Show dagegen werde der Frau eine »entwürdigende objekthafte Rolle« zugewiesen, und das Gericht sprach von der »durch den einseitigen Sichtkontakt hervorgehobenen verdinglichenden Isolierung der als Lustobjekt zur Schau gestellten Frau«, von einer »der sexuellen Stimulierung dienenden Sache« und einer »entpersonifizierenden Vermarktung der Frau«.
Der Vergleich der beiden Richtersprüche ist interessant: Sie sind, was das Verständnis von Würde anlangt, genau gegenläufig. Für den Richter, der die Show genehmigen wollte, waren die Anonymität der Voyeure und die Unmöglichkeit jeder Art von Begegnung mit der Frau auf der kreisenden Bühne ein Bollwerk gegen den Verlust der Würde. Für den Richter des Obersten Gerichts waren gerade sie der Skandal: Die Frauen, fand er, würden dadurch zu puren Dingen und Instrumenten der Lusterzeugung degradiert. Dem ersten Richter ging es im Grunde mehr um Ruhe: um das Vermeiden von Aufsehen und Aufruhr. Nur der zweite hat sich dem eigentlichen Thema der Würde gestellt. Und er hat genau den Maßstab angelegt, von dem nun schon mehrfach die Rede war: jemanden nicht zum Ding und bloßen Mittel machen.
Man kann sich fragen: Sind Darsteller in einem pornographischen Film besser oder schlechter dran? Besser, weil sie immerhin etwas tun, wenngleich etwas wenig Kunstvolles? Schlechter, weil sie sich nicht nur mit ihrer Nacktheit zur Schau stellen, sondern auch noch mit ihrer Lust, der echten oder gespielten?
Ware Mensch
Wenn man in Amsterdam eine bestimmte Gracht entlanggeht, steht man plötzlich vor Schaufenstern, in denen Frauen sich in Reizwäsche zum Kauf anbieten. Es kann einem gehen wie beim Zwergenwurf: Man traut seinen Augen nicht. Warum?
Es sind die Schaufenster. Sie machen die Frauen zur puren Ware, die auch als Ware ausgestellt wird – als etwas, das man besichtigt, nach dessen Preis man sich erkundigt, und das man schließlich kauft. Wie ein Rind auf dem Viehmarkt oder einen Sklaven auf dem Sklavenmarkt. Oder auch wie eine Puppe im Spielzeugladen, jetzt aber eine lebende Puppe, mit der man, weil man dafür bezahlt hat, beliebige Dinge anstellen und sich damit nach Belieben
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