Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
amüsieren kann. Daß man eine solche Puppe der Lust nur für eine begrenzte Zeit mietet, macht die Sache nicht besser. Als Lustobjekt in einem Schaufenster zu sitzen – das ist entwürdigend. Mehr noch, als auf der Bühne einer Peep-Show zu sitzen. Daß man zur Ware geworden ist, wissen jetzt nicht nur die wenigen in den Kabinen. Die ganze Straße weiß es, die ganze Stadt. Und die Ware kann nicht nur voyeuristisch begafft, sondern durch Berühren und Eindringen auch konsumiert werden.
Die Frauen tragen kein Preisschild, aber es würde passen. Als ich da war, fiel eine Horde von Touristen in die Gracht ein. Sie erkundigten sich bei den Frauen nach dem Preis, verglichen und riefen sich die Summen zu. Die ausgestellten Frauen wurden als austauschbar behandelt und gehandelt. Zwar würde nicht jeder jede nehmen. Aber es war für die Kunden vor allem eine Frage des Preises , ob sie zugriffen oder nicht. Es hatte nichts mit den Frauen als Personen und unverwechselbaren Individuen zu tun – damit, wer und wie sie waren, abgesehen von ihrem Fleisch. Jedesmal, wenn die Touristen eintraten, um nach dem Preis zu fragen, bimmelte die Ladenglocke. Es war gespenstisch. Auf dem Rückflug nickte ich ein. Als ich aufwachte, fragte ich mich, ob ich das alles nicht nur geträumt hatte.
Mißachten
»Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, das heißt, wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein.« So beginnt Robert Walsers Buch Jakob von Gunten . Jakob, ein Zögling des Instituts, tritt nach der Ankunft vor den Vorsteher. »Herr Benjamenta fragte mich, was ich wolle. Ich erklärte ihm schüchtern, daß ich wünsche, sein Schüler zu werden. Darauf schwieg er und las Zeitungen.«
Es gibt Worte, die wie in den Wind gesprochensind: Es ist niemand da, oder sie kommen beim anderen nicht an. Hier ist es anders: Es ist unmöglich, daß Herr Benjamenta Jakobs Worte nicht gehört hat. Trotzdem ist es, als habe Jakob gar nichts gesagt: Die Worte werden behandelt, als seien sie nicht gesprochen worden. Und es sind ja keine geringen Worte, die von keinem geringen Wunsch handeln. Es ist, wie wenn man wortlos zur Zeitung griffe, nachdem jemand zu einem gesagt hätte: »Ich möchte mich von dir trennen, ich halte es mit dir nicht mehr aus«, oder: »Ich möchte das Leben mit dir verbringen, mit dir Kinder haben«, oder: »Ich möchte gemeinsam mit dir eine Firma gründen.«
Jakob wird vom Vorsteher wie Luft behandelt. In einer Klasse meiner Schule gab es einen dunkelhäutigen Jungen, Rabah. Er war der Hellste und Schnellste der Klasse. Der Lehrer übersah ihn systematisch. Rabah meldete sich, bis ihm der Arm weh tat, aber er wurde nicht drangenommen. Beim Appell wurde er nicht gezählt. Die anderen wichen ihm aus wie einem Gegenstand, einem bloßen Hindernis. Er versuchte, die Mißachtung zu durchbrechen, indem er die Antwort schneller sagte als die anderen. Er wurde hinausgeschickt. Als er aufstand und zur Tür ging, grinste er: Er war angesprochen worden; er hatte gewonnen.
Wenn man jemandem die Würde stiehlt, indem man ihn zum bloßen Mittel macht, liegt es daran, daß es keine Begegnung gibt: kein wechselseitiges Sehen und Anerkennen als Subjekt, das ein Recht hat, als Zweck in sich selbst behandelt zu werden. Auch bei Herrn Benjamenta und dem rassistischen Lehrer geht es darum: Sie verweigern jemandem, den sie vor sich haben, die Begegnung. Dieses Mal nicht, indem sie ihn verdinglichen, zum Spielzeug oder Lustobjekt machen, sondern dadurch, daß sie tun, als gäbe es ihn überhaupt nicht. Er wird ignoriert . Die Zerstörung der Würde liegt nicht, wie früher, in einem Mißbrauch , sondern in einer Mißachtung .
Reden Sie mit mir!
Man kann jemanden auch mißachten, wenn man über ihn redet statt zu ihm. Und wiederum wird die Begegnung verweigert.
»Ist das die Leberzirrhose?«, fragt der Chefarzt die Assistentin, als er grußlos an mein Bett tritt.
»Pankreas«, sagt die Assistentin.
Der Chefarzt beugt sich über die Krankenakte in ihrer Hand, seine Wange streift ihr Haar.
»Liegt schon ziemlich lange.«
»Wann kann ich nach Hause?«, frage ich den Chefarzt.
»Er ist noch nicht so weit«, sagt der Chefarzt zur Assistentin, den Blick in der Akte.
»Was ist denn los mit mir?«, frage ich.
»Wir müssen ihn noch einige Zeit beobachten«, sagt der Chefarzt zur Assistentin.
»Herr Professor Müller, ich
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