Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Sinn und Bedeutung zuwiderlaufen. »Sie sind nur verhaftet, nichts weiter«, sagt man zu ihm, und man ergänzt diese erschreckende Mitteilung durch die Bemerkung, das sei überhaupt kein Grund zum Verzweifeln. Und die verstörenden Widersprüche gehen weiter: »Sie werden jetzt wohl in die Bank gehen wollen?« »In die Bank?« fragte K. »Ich dachte, ich wäre verhaftet. Wie kann ich denn in die Bank gehen, da ich verhaftet bin?« »Ach so«, sagte der Aufseher, »Sie haben mich mißverstanden, Sie sind verhaftet, gewiß, aber das soll Sie nicht hindern Ihren Beruf zu erfüllen. Sie sollen auch in Ihrer gewöhnlichen Lebensweise nicht gehindert sein.«
Es ist für Josef K. eine demütigende Situation, in der seine Würde mit Füßen getreten wird. Es beginnt damit, daß er nicht informiert wird: Die Männer sagen ihm nicht, wer sie sind und wer sie geschickt hat. Das bedeutet demonstrierte Ohnmacht. Jede Situation, in der uns Informationen fehlen, um uns zurechtzufinden, ist mit der Erfahrung der Ohnmacht verbunden: wenn wir uns verirrt haben und nicht wissen, wo wir sind; wenn wir aus dem Koma aufwachen und nicht wissen, was für ein Tag ist; wenn jemand vor unserem Krankenbett steht und wir nicht wissen, wer es ist. Doch fehlende Information, für sich allein betrachtet, bedeutet noch keine Demütigung. Dazu wird sie erst, wenn wir entdecken, daß uns die Information vorenthalten wird.
»Wie lautet die Diagnose?«, frage ich den Arzt. Er blättert in seinen Papieren, blickt auf den Bildschirm. »Wie lautet sie?« wiederhole ich. »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, sagt der Arzt. »Es geht um meine Krankheit ! Es geht um mich !« »Es ist besser für Sie, wenn Sie es nicht wissen.« »Das entscheiden nicht Sie , das entscheide ich !«, schreie ich, stehe auf und reiße die Krankenakte an mich. Ähnlich wäre es, wenn mir der Polizist den Grund meiner Verhaftung nicht sagen wollte: Ich würde versuchen, ihm den Haftbefehl aus der Hand zu reißen.
Hinter meiner wütenden Reaktion steht nicht nur die Verwirrung über mein fehlendes Wissen, sondern die Empörung darüber, daß man mich planvoll im ungewissen läßt . So ist es auch, wenn weniger auf dem Spiel steht: wenn uns im Zug, der auf offener Strecke gehalten hat, stundenlang niemand sagt, was los ist und wann es weitergehen wird. Es ist nicht einfach nur frustrierend, weil wir darin gehindert werden, zur Situation eine angemessene Einstellung zu finden. Wir fühlen uns übergangen und in unserem Recht verletzt, als Subjekte und mündige Personen behandelt zu werden. Und das ist eine Frage der Würde.
So ist es auch, wenn es nicht nur um Information geht, sondern um Erklären und Verstehen . Nicht nur darum, was geschieht, sondern warum . K. s Ohnmacht und Demütigung besteht durch das ganze Buch hindurch vor allem darin, daß lauter Dinge zu ihm gesagt und mit ihm gemacht werden, die er nicht verstehen kann, weil sie ihm niemand erklärt. Er erfährt bis zum Schluß nicht, warum er verhaftet, angeklagt und hingerichtet wird. Er wird in seiner Würde verletzt als einer, der verstehen möchte, was mit ihm geschieht. Und die unheimlichen Drahtzieher von Verhaftung und Prozeß treiben diese Verletzung auf die Spitze, indem sie K. sogar um die gewöhnliche Bedeutung der Wörter betrügen und ihn seiner eigenen Sprache entfremden: Man versteht nicht, was es heißt, »verhaftet« zu werden, wenn man sein Leben fortführen darf wie vorher.
Wiederum geht es nicht einfach darum, daß eine Erklärung für etwas fehlt . Die Demütigung besteht darin, daß sie uns vorenthalten wird. Wenn das Medikament nicht wirkt und der Arzt auch nicht weiß, warum, so ist meine Würde nicht in Gefahr. In Gefahr gerät sie erst, wenn er es weiß, es mir aber nicht sagen will. Es kann auch um weniger wichtige Dinge gehen. Warum mein Internet nicht geht, frage ich die Dame von der Telekom mit der scheißfreundlichen Telefonstimme. »Es wird schon eine Ursache geben. Einen schönen Tag noch!« Warum wir nun schon eine halbe Stunde auf offener Strecke stünden, frage ich den Schaffner. »Das möchten Sie wohl gerne wissen, wa?«, sagt er grinsend. »Richtig verarscht wird man hier!«, sagt der Mann neben mir. Es ist Ärger, doch nicht ein gewöhnlicher Ärger, wie wenn man angerempelt wird, oder beklaut. Auch wenn es nicht um viel geht, vielleicht nur um eine Winzigkeit: Man möchte ernst genommen werden als jemand, der wissen will, was los ist. Eine Weiterfahrt sei vorerst »aus
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