Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
betrieblichen Gründen« nicht möglich, hören wir aus dem Lautsprecher. »Wie der letzte Dreck wird man hier behandelt!«, ruft jemand. Er meint nicht bloße Höflichkeit oder eine unverbindliche Art von Respekt. Er meint den Respekt vor vernünftigen, denkenden Wesen, die Gründe hören und verstehen möchten.
Natürlich liegt eine Gefährdung der Würde in diesem Sinne vor allem dann vor, wenn es um Dinge geht, die für ein Leben große Bedeutung haben: Gesundheit und Recht etwa. Oft tritt dann neben die vorenthaltene Information und Erklärung noch die verweigerte Begründung oder Rechtfertigung eines Tuns hinzu, das mich betrifft. So geschieht es Jakob von Gunten: »Da fragte mich der Vorsteher mit seiner Gebieterstimme, ob ich Geld bei mir hätte, und ich bejahte. ›So gib es her. Rasch!‹, befahl er. Man strich das Geld ein und schwieg wieder. Da fand ich den Heldenmut, schüchtern um eine Quittung zu ersuchen, doch man gab mir folgendes zur Antwort: ›Schlingel wie du erhalten keine Quittungen.‹«
In das Räderwerk einer Klinik zu geraten, ist aus vielen Gründen schrecklich. Einer der wichtigsten ist, daß dem Patienten oft die Würde des Wissens und Verstehens genommen wird, weil man nicht begründet, was man mit ihm macht. Als ich eines Tages in der Klinik aufwachte, stand das Bett nicht im Zimmer, sondern auf dem Flur.
»Warum bin ich hier?« fragte ich den Pfleger.
»Sie sind krank«, sagte er.
»Aber warum bin ich hier im Flur und nicht in meinem Zimmer?«
»Sie sind krank.«
»Und warum legen Sie jetzt diese Infusion? Das hatte ich noch nie.«
»Sie sind krank.«
Ich hatte nur doch diesen einen Impuls: weg – und zum Teufel mit der Therapie! Jede Krankheit und jeder Schmerz waren besser als diese Behandlung. Im Café ging es mir so gut wie lange nicht mehr. »Ich hatte Perrier bestellt – warum bringen Sie mir San Pellegrino?«, fragte ich die Bedienung. »Ich wollte es gerade erklären: Perrier ist uns ausgegangen. Möchten Sie etwas anderes? Ich kann Ihnen die Karte bringen.« Danach ging es mir noch besser, und ich steckte eine Zigarette an. Nach einer Weile kamen die Schmerzen. Ich fand meinen Ausbruch trotzdem richtig.
Wenn wir ohne Begründung abgeurteilt, versetzt oder entlassen werden, empfinden wir das als eine Verletzung unserer Würde. So geht es uns auch, wenn sich etwas in unseren Beziehungen zu anderen verändert, etwas, was die Gefühle betrifft. Wenn man uns die Freundschaft aufkündigt, wenn wir verlassen oder plötzlich mit Verachtung behandelt werden, wollen wir wissen, warum. Wenn der andere, der zu unserem Leben gehörte, wortlos verschwindet, tut das auf doppelte Weise weh: einmal wegen der Leere, dann aber auch wegen der Wortlosigkeit, durch die wir uns in unserem Recht auf Begründung verletzt fühlen. Gefühle sind nicht wie blinde Dispositionen oder blinde innere Turbulenzen. Sie sind eingebettet in den umfassenden Wunsch, unser Leben zu verstehen. Wer uns mit einem Tun, das unsere Innenwelt verändern muß, darin nicht respektiert, beschädigt unsere Würde. Er läßt uns ohnmächtig zurück, und es ist die Ohnmacht der Demütigung.
Die Geschichte von Josef K. ist die Geschichte einer Vernichtung. Auch die einer physischen Vernichtung, einer Hinrichtung. Aber vor allem die einer Vernichtung der Person, die darin besteht, daß ihre Würde vernichtet wird. Und es diese besondere Art der Würde, die vernichtet wird: das Recht zu verstehen, was mit dem eigenen Leben geschieht.
Manipulieren
Die anderen können uns die Würde nicht nur dadurch nehmen, daß sie uns benutzen, bevormunden oder mißachten. Sie können unsere Würde auch dadurch in Gefahr bringen, daß sie uns manipulieren . Was kann das heißen?
Manipulation ist eine besondere Art, auf jemanden einzuwirken. Wenn wir vor jemanden hintreten, ihn berühren, ihm etwas zeigen oder etwas zu ihm sagen: Stets wirken wir auf ihn ein und bewirken, daß sich sein Erleben und Tun verändert. Was macht den manipulierenden Einfluß zu etwas Besonderem und zu etwas, was die Würde untergräbt?
In Claude Sautets Film Max et les ferrailleurs gibt es einen Kommissar, Max, der eine Clique von Schrotthändlern und Kleinkriminellen dazu verführt, einen Bankeinbruch zu begehen. Max, der aus reicher Familie stammt, war zunächst Untersuchungsrichter. Eines Tages mußte er jemanden aus Mangel an Beweisen freisprechen, obwohl er felsenfest von seiner Schuld überzeugt war. Das hielt er nicht aus und wurde Polizist
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