Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
produktiver Abgrenzung, die zu meiner Würde im Sinne der Selbständigkeit gehört.
Kein Mitleid, bitte!
In Norman Jewisons Film In der Hitze der Nacht hilft der schwarze Polizist Virgil Tibbs dem Sheriff einer Kleinstadt im Staat Mississippi, einen Mord aufzuklären. Anfänglich begegnet der Sheriff dem Schwarzen mit Mißtrauen und Ablehnung. Doch dann ändern sich seine Empfindungen, und eines Nachts lädt er ihn zu sich in seine Bude ein, ein Zimmer in der Polizeistation. Was er über Schlaflosigkeit wisse, fragt er Tibbs und schenkt sich Whisky ein. Bourbon helfe da auch nicht, sagt Tibbs.
»Ich hab’ keine Frau und keine Kinder«, sagt der Sheriff, »und die Leute hier … die mögen mich nicht. Ich hab’ einen Ventilator, den ich selbst ölen muß. Ich hab’ einen kaputten Tisch und wohne … in dieser Bude. Na, ist das nicht Grund genug für einen Mann, ein bißchen zu trinken? Ich verrat’ Ihnen was: Niemand kommt hierher – niemals. Sind Sie verheiratet?«
»Nein.«
»Jemals gewesen?«
»Nein.«
»Auch nicht fast?«
»Fast.«
»Fühlen Sie sich dann nicht … ein bißchen einsam?«
»Nicht einsamer als Sie, Mann.«
»Was fällt dir ein? Werd’ ja nicht frech, Nigger-Boy! Ich brauch’ das nicht! Kein Mitleid, danke schön. Nein, danke schön!«
Es ist, als kämpfte der Sheriff mit diesem zornigen Ausruf um seine Würde. Als brächte Tibbs sie durch sein Mitleid in Gefahr. Wie kann das sein? Hilft es denn nicht, wenn jemand mit einem fühlt – also Mitgefühl zeigt? Ist es nicht schön, Anteilnahme zu erfahren? Man spürt: Man ist den anderen nicht gleichgültig. Man ist dadurch weniger allein mit seinem Leid und kann sich der tröstlichen Illusion überlassen, nicht die ganze Last allein tragen zu müssen. Wogegen also wehrt sich der zornige Ausruf?
Mitgefühl und Anteilnahme – das wäre im Englischen compassion . Das ist es nicht, was der Sheriff zurückweist. Es ist pity , Mitleid, was ihn wütend macht. Was ist das Störende dabei? Was könnte die Würde gefährden? Tibbs gibt zu erkennen: Ich weiß von deinem Leid, deiner Einsamkeit. Doch das Wissen allein kann es nicht sein. Der Sheriff hat ausführlich von seinem einsamen Leben berichtet. Er wollte , daß Tibbs davon weiß. Es ist nicht das Wissen; es ist etwas, was Tibbs damit macht . Ist es, daß er die Einsamkeit des Sheriffs zur Sprache bringt ? Beim Namen nennt? Aber es müssen nicht Worte sein. Es kann auch eine Geste sein: Ich lege den Arm um den, der einsam ist. Auch das kann zu einer Explosion führen, zu einem wütenden Wegstoßen. Geht es also darum, daß jemand mein Leid überhaupt zum Thema macht ? Aber ich kann es auch ganz neutral zum Thema machen, ohne Ausdruck des Mitleids.
Vielleicht ist es so: Der andere läßt mich in seinem Mitleid sehen, daß er mich für schwach und unglücklich hält – für einen, den man bemitleiden muß. Ich sehe es in seinem Verhalten: Er sieht mich als schwach. Und zeigt es. Was daran ist so schwer zu ertragen? Ist es, weil ich die Schwäche und das Unglück, die ich schon lange spüre, jetzt, wo sie im Verhalten des anderen Thema sind, in einer Weise anerkennen muß wie vorher nicht? Daß ich es vor mir nicht länger in der Schwebe halten kann, ob ich wirklich unglücklich bin, etwa einsam? Ist es also, weil mich der andere zur Wahrhaftigkeit zwingt? Ist es das, was der Sheriff Tibbs übelnimmt?
Das Mitleid der anderen macht mich klein . Deshalb kann es auf mich herablassend wirken: Ich bin der Starke, du der Schwache. Dann ist die Symmetrie der Begegnung verletzt und die Würde in Gefahr. Anders bei der mitfühlenden Anteilnahme: Sie verbindet, ohne daß Stärke und Schwäche, Groß und Klein, eine Rolle spielen.
Mitleid macht besonders dann wütend, wenn es verlorener Selbständigkeit gilt: wenn wir durch Krankheit, Armut oder ein Unvermögen die Fähigkeit verloren haben, auf eigenen Füßen zu stehen. Dann sehen wir im Blick und hören in den Worten des Mitleids vor allem die Botschaft: Du bist kein Selbständiger mehr. Das Bemitleiden wird dadurch zur Demonstration von Ohnmacht. Es ist keine bösartig demonstrierte und keine genossene Ohnmacht, aber eben doch eine Demonstration der Ohnmacht, die der andere zwar nicht herbeiführt, aber in der Geste des Mitleids darstellt und betont. Dadurch gerät der Ausdruck des Mitleids in gefährliche Nähe zur Demütigung. Nicht nur der einsame Sheriff will kein Mitleid. Auch der Rollstuhlfahrer will es nicht, weil es ihm, außer
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