Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
daß er sie ohnehin ständig spürt, seine Ohnmacht zusätzlich vor Augen führt. Wenn er und der Sheriff sich gegen das Mitleid wehren, dann tun sie es mit der Wut, mit der wir uns gegen Demütigungen wehren.
Wenn Selbständige sich begegnen
Wenn sich Menschen begegnen, die auf dem Weg zur Selbständigkeit sind, dann muß sich ihre Beziehung nicht darin erschöpfen, daß die Wünsche und Affekte blind Regie führen. Es muß nicht dabei bleiben, daß wir die Beziehung nur als Opfer des seelischen Kräftespiels erleben und feststellen, daß wir Glück oder Pech miteinander haben. Da wir des inneren Abstands fähig sind, des kritischen Nachdenkens und Nachfragens, auch der Befragung unseres Selbstbilds, können wir die Beziehung als ganze zum Thema machen. Es gibt die Möglichkeit, darüber zu sprechen: Was ist unser jeweiliger Anteil an der Art, wie wir die Beziehung erleben? Wie sehen wir den anderen, und was denken wir über die Art, wie er uns sieht? Was machen wir falsch? Man kann das auch zerreden. Aber die Möglichkeit solcher Verständigung gehört zur Würde einer Begegnung. Das wird uns klar, wenn wir das Gegenteil erleben: wenn wir Gefangene der Sprachlosigkeit sind und uns stumm ineinander verbeißen. Das erleben wir nicht nur als irgendein Unglück, sondern als das Unglück fehlender Würde. Wir haben die Souveränität verloren.
Wir spüren: zu dieser Souveränität gehören Erfahrungen, die wie Balanceakte sind. Die eine hat mit den Selbstbildern zu tun. Wir sind miteinander nicht nur im unmittelbaren Erleben verschränkt, sondern auch dadurch, daß wir uns in unseren Selbstbildern erkennen und darin aufeinandertreffen. Ich weiß vom Selbstbild des anderen, ich sehe, daß es nicht zu seinem Tun und Sagen paßt, ich erkenne Selbsttäuschungen und Lebenslügen – und zugleich geht es mir auch darum, ihn in seinem Selbstverständnis zu respektieren. Das bedeutet diffizile Empfindungen, bei denen ich leicht das Gleichgewicht verliere. Auch umgekehrt kann es schwierig werden: wenn ich gewahr werde, daß der andere durch eine vertiefte Begegnung über mich mehr zu wissen scheint als ich selbst. Das kann mich in Frage stellen. Ich brauche Mut, um weiterzumachen und daran zu wachsen. Auch der Umgang mit erkannten Projektionen ist ein Balanceakt. Es gibt keine intensiven Begegnungen ohne Projektionen: ohne den Versuch, den anderen nach meinen Wünschen zu modellieren. Der andere wird den Konflikt zwischen dem Wunschbild und seiner eigenen Wirklichkeit erkennen und hat nun die Aufgabe, sich zu wehren, ohne die Beziehung an seinem Widerstand zerbrechen zu lassen. Es gehört zur Begegnung von Selbständigen, daß sie vor solchen Aufgaben nicht davonlaufen.
Davonlaufen werden sie auch vor etwas anderem nicht: Konflikten. Es gibt Momente, wo man Konflikten, die man seit längerem wachsen spürt, ins Auge sehen und sie beim Namen nennen muß, um sie dann auszutragen. Wenn man ihnen stets von neuem ausweicht, durch Beschönigung oder Stillschweigen, bedeutet das nicht nur wachsende Spannungen. Es bedeutet das Unglück verpaßter Würde.
Sarah Winter hatte Bernhard seinerzeit in die Klinik gebracht, und er hatte mit einem Gefühl verlorener Würde gekämpft, als er darum bettelte, sie möge noch ein bißchen bleiben. Eines Tages muß auch Sarah ins Krankenhaus. Wieder ist es Sonntag abend. Eigentlich ist es noch zu früh, aber sie drängt. »Ich will es hinter mich bringen«, sagt sie mit verschlossenem Gesicht, das kein Mitgefühl will. Auch daß er noch im Krankenzimmer bleibt, will sie nicht. Er geht den Flur entlang dem Ausgang zu. Es ist eine unerklärliche Vorahnung, die ihn umkehren läßt. Leise öffnet er die Tür einen Spalt. Sarah liegt auf dem Bett. Um den Kopf hat sie Kopfhörer, die er noch nie gesehen hat. Sie mag Kopfhörer nicht. Die Beine hat sie aufgestellt, das eine über das andere geschlagen. Mit dem übergeschlagenen Bein wippt sie im Takt der Musik. Es ist ein lebhaftes, übermütiges Wippen. Es paßt zu ihrem freudigen, ausgelassenen Gesicht. Sie pfeift. Bernhard schließt die Tür und geht mit schleppendem Schritt wieder auf den Ausgang zu. Einen, der draußen raucht, bittet er um eine Zigarette, die erste seit Jahren. Es war eine ganz andere Sarah. Nicht nur anders als die Frau mit dem verschlossenen Gesicht, die es hinter sich bringen wollte. Insgesamt anders als die Frau, mit der er zusammengelebt hatte. Sollte er sie jetzt gleich zur Rede stellen: »Was hast du mir da vorgespielt?
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