Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
dessen Eingriff verlorene Möglichkeiten des Lebens zurückzugewinnen. Meine Würde gerät dabei nicht in Gefahr, weil niemand manipulativ mit mir spielt, wie wir uns das bei Max und Abel vorgestellt haben. Das Ziel des Einflusses ist die Wiederherstellung meiner zerfallenen Autorität und Selbstbestimmung, und auch wenn ich in der Zeit der Hilflosigkeit kein wirklicher Partner in einer Begegnung sein kann, so hat mich der Therapeut doch als einen Menschen vor Augen, mit dem es diese Begegnung eines Tages wieder geben wird. Meine Würde, könnte man sagen, ist in dieser Erwartung aufbewahrt.
Wenn jemand zögert, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, so kann dieses Zögern in einer unrealistischen Vorstellung von seelischer Selbständigkeit begründet sein. Davon war im ersten Kapitel die Rede. Doch das Zögern kann auch aus einem anderen Unbehagen entstehen: Ich möchte mich mit meiner seelischen Not nicht dem distanzierten, professionellen Blick eines Therapeuten aussetzen. Beim Körper macht das nichts, da bin ich froh über den nüchternen Blick des Arztes. Bei der Seele ist es anders. Ich möchte die Seele im Engagement leben, nur darin. Verwandelt mich der distanzierte Blick eines Therapeuten nicht in einen bloßen Schauplatz seelischen Geschehens? In ein analysiertes, seziertes Geschehen?
Doch auch dieses Unbehagen beruht auf einem Mißverständnis. Die Begegnung mit einem Therapeuten ist eine besonders geartete Begegnung, weil ihr die Symmetrie gewöhnlicher Begegnungen fehlt. Ich kümmere mich nicht so um den Therapeuten, wie er sich um mich kümmert. Ich weiß viel weniger über ihn als er über mich. Trotzdem ist der therapeutische Blick etwas anderes als der vollständig distanzierte Blick, unter dem das seelische Geschehen zu gerinnen droht. Zwar ist der Therapeut nicht in mein gewöhnliches Leben verflochten, und deshalb entstehen keine gewöhnlichen Verwicklungen der Gefühle. Doch in der verschwiegenen Konzentration der therapeutischen Arbeit können eine Nähe und ein Engagement entstehen, die der Tiefe der besprochenen Gefühle entsprechen.
Aber muß ich mich nicht vor den Veränderungen fürchten, die eine Therapie in meinem Erinnern, Erleben und Tun bewirken wird? Bei Freunden ist es anders: Wir reden über Dinge, von denen ich weiß und die sich meiner Wahrnehmung nicht prinzipiell entziehen. Ich muß meine Autorität als Wissender nicht in Frage stellen. Ich muß nicht erwägen, daß es um mich ganz anders stehen könnte als gedacht. Überhaupt steht viel weniger zur Disposition als beim Therapeuten, der radikale Fragen aufwerfen kann. Ich weiß, wie mich meine Freunde sehen und fühle mich sicher. Ihr Blick macht mich zwar auch unfrei, wie ich später feststellen mag. Aber er bietet Geborgenheit. Ich bin aufgehoben in ihren Projektionen.
Doch auch die Befürchtung, mir durch eine Therapie fremd zu werden und in diesem Sinn vielleicht sogar meine Würde zu verlieren, ist unbegründet. Nichts, was ein Therapeut tut, ist darauf angelegt, mich zu überwältigen und von mir selbst zu entfernen. Ein Therapeut respektiert meine Symptome: Sie haben einen Sinn und sind intelligente Antworten auf die Zumutungen der Lebensgeschichte. Sie sind nicht etwas, was um jeden Preis abzuschaffen wäre. Respektiert wird auch mein Widerstand gegen Veränderung: Das Unbewußte hat seine Gründe, mich schützen zu wollen. Seelischer Widerstand ist nicht etwas, was zu brechen wäre. Er ist Leitlinie für den Therapeuten: Die Heilung liegt dort, wo der Widerstand ist. Denn dort liegt der Konflikt, den es zu bearbeiten gilt. Und auch meine Selbständigkeit bleibt gewahrt: Die Deutungen des Therapeuten sind Vorschläge, keine Verordnungen. Mit der Zeit lerne ich die Grenzen seines Verständnisses kennen. Zu Beginn erscheint er als eine Instanz objektiven Wissens. Was er sagt, trägt nicht das Merkmal seiner Persönlichkeit und ihrer Begrenzungen. Und ich bin froh darüber. Später, wenn seine Deutungen mich in einem Aspekt meines Erlebens systematisch verfehlen, lerne ich: Das kann er nicht anders sehen, weil er so ist, wie er ist. Das heißt nicht, daß mir diese Deutungen nichts nützen: Ich erkenne mich in Abgrenzung gegen seine Geschichte über mich. Darin liegt meine Selbständigkeit im Erkennen, die ich ohne die Auseinandersetzung mit seinen Deutungen nicht erworben hätte. Ich kann diese Distanzierung mit ihm besprechen. Doch auch dieses Besprechen hat Grenzen, und ein Rest der Arbeit verläuft in stiller,
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