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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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Bist du froh , mich einige Zeit nicht um dich zu haben? Bist du insgeheim auf dem Absprung ?« Nicht hier, nicht im Krankenhaus …

Dem Anderen eine offene Zukunft lassen
     
    Innere Selbständigkeit, haben wir im ersten Kapitel gesagt, ist mit der Erfahrung einer offenen Zukunft verknüpft: der Erfahrung, daß uns das vergangene Geschehen, Tun und Erleben nicht auf eine einzige Zukunft festlegt. Daß wir nicht dazu verdammt sind, unsere Geschichte nach ehernen Gesetzen starr in die Zukunft hinein weiterzuleben. Daß wir uns von der Geschichte auch distanzieren und etwas Neues ausprobieren können. Nicht einfach so, wie durch ein Fingerschnippen. Sondern durch ein Verstehen des Vergangenen, das nicht schon die Befreiung ist, sie aber vorbereitet.
    Dem entspricht in einer Begegnung das Recht auf eine offene Zukunft. Es ist das Recht, sich im Tun und Erleben verändern und neue Wege gehen zu dürfen. Wenn wir dem anderen die Würde lassen wollen, dürfen wir ihn nicht durch festgelegte Erwartungen einschnüren. Wir dürfen uns kein endgültiges Bildnis von ihm machen, unter dessen Last er ersticken müßte. Dieses Recht ist ein Aspekt des Wunschs, als ein Wesen betrachtet zu werden, das ein Zweck in sich selbst ist: kein Wesen, das andere zum bloßen Instrument ihrer Wünsche machen dürfen, zum Wasserträger im Rennen um ihr eigenes Glück. Wir könnten mit niemandem leben, der in dem, was er sagt und tut, ganz und gar rhapsodisch wäre, unvorhersehbar und ohne Stimmigkeit über die Zeit. Aber wir kennen auch Würdelosigkeit als Zerfleischung in einer festgefahrenen Beziehung, in der sich alles wiederholt wie in früheren Zeiten, wenn die Nadel in der Rille einer Schallplatte festhing.
    Würde hat mit der Bereitschaft zu tun, sich durch eine Beziehung verändern zu lassen, bis hin zu der Bereitschaft, sie zu beenden. Es gibt eine Spannung zwischen der offenen Zukunft, die ich dem anderen lasse und für mich selbst beanspruche, und der Loyalität, ohne die es auch keine tiefe Beziehung gibt. Denn Loyalität, verstanden als Parteinahme der Seele für einen anderen, schließt immer auch Verzicht ein, Verzicht auf andere Möglichkeiten, die hätten gelebt werden können. Loyalität und Offenheit: Auch darüber muß man reden können.

Würdige Abschiede
     
    Manchmal trennen sich die Lebenswege. Man wird sich vielleicht wieder begegnen, aber das gemeinsame Leben ist zu Ende. Im Schmerz der Trennung ist das Bewußtsein von der Zerbrechlichkeit aller Beziehungen enthalten, das Bewußtsein von der Vorläufigkeit allen Erlebens und Teilens, allen Versprechens und Hoffens. Es ist ein Bewußtsein, ein ganz unsentimentales, einer letzten Einsamkeit. Würde ist eine Art, diese schmerzliche Erfahrung gut zu bestehen. Worauf kommt es dabei an?
    Das eine ist das Bemühen zu verstehen : wie das gemeinsame Leben war, wie es begann, was für eine Logik es hatte, wo die ersten Risse sichtbar wurden. Was für Zufälle eine Rolle gespielt haben. Wie sich die Empfindungen und Einstellungen, die Muster des Handelns, im Laufe der Zeit verändert haben, und warum. Was man am anderen und an sich selbst in Beziehung zum anderen verstanden hat und was nicht. Was einem immer fremd geblieben ist.
    Die Würde eines Abschieds hat viel mit Anerkennung zu tun: anerkennen, was der andere ist, was er kann, wie wichtig er einem war, was er für die Beziehung geleistet hat. Zurechtrücken, wenn man ihn kleingemacht hat. Vorwürfe relativieren, Wichtiges von Bedeutungslosem trennen. Auch: den anderen als ganzen würdigen, als einen, in dem Möglichkeiten angelegt sind, die man nicht gesehen, nicht verstanden, sogar behindert hat. Auch um Großzügigkeit geht es. In ihr wird sich Dankbarkeit für das ausdrücken, was einem der andere bedeutet hat.
    Solche Großzügigkeit wird nur möglich durch Selbstkritik – die Bereitschaft zu tun, was früher, in der Hitze der Verstrickung, nicht möglich war: eigene Fehler erkennen und eingestehen, Versäumnisse, Grausamkeiten, die Ungerechtigkeit eigener Vorwürfe. Auch um die Anerkennung berechtigter Vorwürfe des anderen wird es gehen. Und insgesamt kommt es darauf an, sich aus dem Wahn des Rechthabens zu befreien. Würde hat mit Versöhnung zu tun: den anderen gelten lassen, Vorwürfe ruhen lassen, Schuld ruhen lassen. Sich die verbindenden Empfindungen vergegenwärtigen, ohne Beschönigung, ohne Kitsch. Sich bewußtmachen, daß der andere in gewissem Sinne nichts dafür kann, wie er ist; daß es Grenzen für die

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