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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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geschaffen, in dem es ausschließlich darum geht, den Betroffenen zu verstehen, ihm zu einem besseren Verständnis seiner selbst zu verhelfen und ihn zu seinem Wohl zu verändern. Es zeichnet den guten und integren Therapeuten aus, daß er vor eigennützigen Absichten auf der Hut ist, sie aus dem Spiel läßt und die Gefühle, die ich ihm entgegenbringe, nicht ausnutzt. Seine Einstellung ist derjenigen von Max gegenüber Lilli oder von Felix gegenüber Abel entgegengesetzt, und weil ihr der Eigennutz fehlt, ist sie nach meiner begrifflichen Geschichte gezielte Einflußnahme, aber keine Manipulation. Daß es das ausdrückliche therapeutische Bündnis gibt, bedeutet, daß zwischen mir und dem Therapeuten eine Begegnung stattfindet, wie es sie weder zwischen Max und Lilli noch zwischen Max und Abel gibt: Ich werde als selbständige Person gesehen und anerkannt.
    Therapeutischer Einfluß ist eine uneigennützige Verführung zum Guten. Wie bei der eigennützigen Verführung lassen sich zwei Formen unterscheiden: diejenige, bei der die Kontrolle und Autorität der Person in jedem Moment unberührt bleiben, und diejenige, in der es vorübergehend nötig werden kann, sogar diese Autorität ins Wanken zu bringen, um die entscheidende innere Veränderung herbeizuführen. In beiden Fällen wird es darum gehen, Licht ins Dunkel verborgener und zensierter Impulse zu bringen, den Gehalt und die Herkunft meines Selbstbilds aufzuklären, und all den Symptomen nachzugehen, die aus Konflikten zwischen Selbstbild und unverstandenem Erleben entstanden sind.
    Im ersten Fall ist das ein Prozeß der Prüfung, des Verstehens und der Veränderung, in dem ich jederzeit innehalten und mich besinnen kann. Wenn ich mir mit einem Therapeuten meine Lebensgeschichte vergegenwärtige und meine jetzigen Konflikte durcharbeite, so kann es Entdeckungen von großer Reichweite geben, in denen sich gewaltige innere Umschichtungen ankündigen: eine tiefgreifende Revision meines Selbstbilds; die Wahrnehmung mächtiger Wünsche, die sich nicht länger verleugnen lassen; die Entdeckung, daß ich wichtige Beziehungen zu anderen Menschen falsch buchstabiert habe; die Aufdeckung von Selbsttäuschungen und Lebenslügen. All das kann gewaltige Erschütterungen bedeuten, die mir vielleicht das Gefühl geben, den Boden unter den Füßen zu verlieren, so daß ich zurück in das vertraute Elend flüchten möchte. Entscheidend ist, daß ich bei der Frage, ob ich auf dem Weg, der sich abzeichnet, weitergehen will oder nicht, die letzte Autorität bleibe. Wenn sichtbar wird, daß sich in mir Widerstand gegen nötige Veränderungen regt und ich der therapeutischen Verführung mit Abwehr begegne, so muß ich nicht befürchten, vom Therapeuten überrannt zu werden. Ich selbst bin es, der bestimmt, welche Veränderungen ich zulasse und welche nicht, und ich bin es, der das Tempo bestimmt. Darin liegt meine Würde in diesem gefährlichen Geschehen, in dem so vieles auf dem Spiel steht.
    Doch es kann sein, daß die Dinge in meiner Innenwelt so verfahren sind, daß ich die Fähigkeit des Innehaltens und der nachdenklichen Distanzierung verloren habe. Ich kann das Opfer eines verfehlten und in seiner Abwegigkeit gänzlich erstarrten Selbstbilds sein, das mich vor mir selbst viel zu klein oder viel zu groß macht, ohne daß ich noch zu erkennen vermag, daß mein auswegloses Erleben auf die Tyrannei dieser falschen Vorstellung und Bewertung zurückgeht. Damit können innere Zwänge verbunden sein oder auch Erfahrungen von unbegründeter Angst und angeblicher Schuld, die mich in die innere und äußere Isolation treiben. All das geht vielleicht einher mit einer Sucht, die mich auch auf körperlichem Weg unzugänglich macht. Auf diese Weise kann ich in eine Situation geraten, in der man nicht mehr auf meine Einsichtsfähigkeit bauen kann. Dann wird der therapeutische Einfluß vielleicht anders aussehen müssen: Meine beste Chance könnte nun sein, mich der Wirkung von Medikamenten und der sanften Führung eines Therapeuten zu überlassen, der mir hilft, verkrustete Bilder von mir selbst und eingefahrene Erlebnismuster zusammenbrechen zu lassen, um danach zu einem besseren Verständnis meiner selbst und zu einer neuen Flüssigkeit des Erlebens und Tuns zu finden. Dabei verliere ich für eine begrenzte Zeit meine Autorität, die aber durch den Krankheitsverlauf ohnehin schon beschädigt war. Es ist dann wie bei einer Operation: Ich gebe mich in die Hände eines anderen, um durch

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