Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Erwartung gab, er möge sich ändern. Sich ansehen im versöhnlichen Bewußtsein, daß zwei Menschen es nur sehr bedingt in der Hand haben, wie sich die Dinge zwischen ihnen entwickeln.
Entsprechend der würdelose Abschied: ein verbissenes, rechthaberisches Tauziehen von zwei Unversöhnlichen, die in Haß und Vorwürfen erstarrt sind. Keine innere Distanz. Es wird aufgerechnet und abgerechnet. Es herrschen Selbstgerechtigkeit und Kleinlichkeit.
Teil einer Trennung ist die Einsicht, daß jede Bindung ungelebtes Leben bedeutet, Verzicht auf Dinge, die man auch hätte leben können. Deshalb bekommt bei einem Abschied das Bewußtsein der offenen Zukunft, von dem schon die Rede war, eine besondere Schärfe. Es geht darum, dem anderen das Recht auf eine offene Zukunft zuzubilligen, auch wenn der Weg in diese Zukunft wegführt von einem selbst. Vielleicht deutet Bernhard Winter Sarahs heimliches Wippen und Pfeifen im Krankenzimmer richtig: Sie ist auf dem Absprung. Sie ist eine Frau, die sich, vielleicht mit einem anderen Mann, so entwickeln kann, wie er sie nicht kannte und wie er es eigentlich auch nicht wahrhaben möchte. Sie wird ihm dadurch fremd werden. Um den Abschied von ihr gut zu bestehen, wird er sich sagen müssen: Man darf Vertrautheit und vermeintlich vollständiges Kennen nicht zum Maßstab machen, der dem anderen die Zukunft verschließt. Der Gedanke ist ein innerer Schritt auf ihre Freiheit hin. Er könnte bei Bernhard zu der Empfindung führen: Auch ich selbst könnte mich in eine Richtung verwandeln, die mich überrascht. Gemessen an der Art, wie ich mich bisher erlebt habe, im gemeinsamen Leben mit Sarah, könnte ich mir sogar ein bißchen fremd vorkommen. Und merkwürdig frei. Die Empfindung würde helfen, Sarah loszulassen und den Abschied in Würde zu bestehen.
3.
Würde als Achtung vor Intimität
Die Würde eines Menschen hat viel mit seinem Bedürfnis zu tun, zwischen dem zu trennen, was nur ihn angeht, und dem, was auch andere wissen dürfen. Wir möchten nicht alles den Blicken der anderen aussetzen. Neben dem weiten Feld, auf dem wir für jedermann sichtbar sind, brauchen wir einen Bezirk, in dem wir mit uns allein sind. Wir haben das Bedürfnis nach einem intimen Raum in unserem Leben. Wenn andere diesen Raum gegen unseren Willen betreten oder wir ihn für andere aus den falschen Gründen öffnen, kann unsere Würde in Gefahr geraten.
Die Trennlinie zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen wird von verschiedenen Menschen unterschiedlich gezogen: Was für den einen noch diesseits liegt und verborgen bleiben muß, liegt für einen anderen jenseits und darf sichtbar werden. Das kann auch von Kultur zu Kultur verschieden sein, und die Trennlinie kann sich von Lebensalter zu Lebensalter verschieben. Für die Erfahrung der Würde ist entscheidend, daß es überhaupt eine solche Linie gibt.
Das Bedürfnis nach dieser Trennung kann sich auf ganz unterschiedliche Dinge beziehen: unser Tun und Können, unseren Besitz, unser Aussehen und unsere Gesundheit, unser Denken und Fühlen, unsere Wünsche, Begierden und Leidenschaften, unsere Vorstellungen und Träume. Bei all diesen Dingen gibt es solches, das wir sehen lassen und sogar zeigen, und anderes, von dem wir möchten, daß es im verborgenen bleibt. Wir wollen es für uns behalten. Wenn der Blick anderer darauf fällt oder es gar ins grelle Licht einer breiten Öffentlichkeit gerät, so ist das nicht nur unangenehm. Es bedeutet einen schweren Verlust, der unser Leben bedrohen kann. Und manchmal erleben wir ihn als einen Verlust unserer Würde.
Das zweifache Bedürfnis nach Intimität
Um diese Erfahrung in ihrem vollen Umfang und in ihrer ganzen Tiefe zu verstehen, ist es wichtig, zwischen zwei Bedürfnissen zu unterscheiden, die hinter dem Wunsch nach einer verborgenen und verschwiegenen Seite unseres Lebens stehen.
Einmal kann es sein, daß wir etwas dem Blick der anderen entziehen wollen, weil es einen Makel darstellt und wir es deshalb verbergen möchten. So ist es, wenn wir eine Mißbildung oder gefährliche Krankheit verbergen, eine Unfähigkeit oder eine Verfehlung, ein Laster oder einen abartigen Wunsch, eine verpönte Überzeugung oder einen Tagtraum, der sogar uns selbst erschreckt. Wenn solche Dinge entgegen unserem Willen offenbar würden, erlebten wir das als Entlarvung . Es wäre eine Erfahrung der Scham . Es könnte zu einem Verlust von Achtung und Anerkennung kommen, zu Ächtung und Ausschluß. Diese Bedrohung ist der
Weitere Kostenlose Bücher