Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
bei pornographischen Fotos und Filmaufnahmen. Ich brauche die innere Zitadelle, um nicht jedesmal durch die Sprengung der intimen Grenzen von neuem erschüttert zu werden. Ich muß den Körper nach außen, vor die Tore der geschrumpften Intimsphäre, verlagern, obwohl doch seine Grenzen ursprünglich zu den wichtigsten Begrenzungen dieser Sphäre gehörten. Ich muß dieses Kunststück sogar dann fertigbringen, wenn ein anderer meinen Körper nicht nur berührt und betastet, sondern in ihn eindringt. Ich muß mich nach innen, in einen Raum diesseits des Körpers zurückziehen und die Grenzen, die mich definieren, in einen seelischen Raum hinein verschieben, den niemand durch ein körperliches Eindringen erreichen kann – dorthin, wo ich unerreichbar, unberührbar und unverletzbar bin. Als dasjenige Selbst, auf das es mir ankommt und um dessen Würde es geht, ziehe ich mich aus dem Körper zurück und bin in dem, was körperlich mit mir geschieht, gar nicht mehr anwesend – es ist niemand zu Hause, wenn man in mich eindringt. Ich verkaufe nicht mich , sondern mein Gehäuse . Dann ist es nicht mehr so schlimm. Ich ziehe mich, während es geschieht, aus dem Körper zurück. Er ist während des Vorgangs wie unbeseelt. Sogar das körperliche Empfinden, könnte man sagen, ist entseelt. Und wenn die anderen kommen und glauben, mir die Würde nehmen zu können, sage ich zu ihnen: Pech gehabt, aber ich bin schon lange nicht mehr da. Ihr greift eine Bastion an, die ich längst aufgegeben habe. Ihr seid so lächerlich wie eine Armee, die mit Getöse in eine Geisterstadt eindringt.
Der innerste Bezirk
Wenn Willy Loman seinen Schlauch im Keller versteckt, so muß der Grund nicht der sein, daß er seine Verzweiflung als einen Makel empfindet und sich deshalb schämt. Es kann auch sein, daß er dieses tiefe und umfassende Gefühl, obwohl er dazu steht, als etwas empfindet, was außer ihm einfach niemanden etwas angeht. Er will damit allein sein. Wenn es sich so verhält, dann wird er von dem zweiten Bedürfnis nach Intimität geleitet, von dem ich zu Beginn des Kapitels gesprochen habe: dem Bedürfnis, sich durch Verschwiegenheit gegen die anderen abzugrenzen. Müßte er erfahren, daß Linda von seinem Geheimnis weiß, wäre es für ihn der Verlust einer schützenden Grenze. Es bedeutete die verstörende Erfahrung einer seelischen Entgrenzung und eines Verfließens nach außen. Was nun drohte, wäre nicht Scham, sondern die Erfahrung der Veräußerlichung der Innenwelt: Etwas, was innen bleiben sollte, wäre nach außen gewendet worden. Es bestünde die Gefahr, könnte man sagen, daß er sich verlöre und sich fremd würde.
Wie läßt sich dieses Bedürfnis nach begrenzender und schützender Intimität genauer verstehen, so daß wir sicher sein können, in seiner Beschreibung nicht bloß leerlaufende Wörter zu beschwören, sondern eine echte Erfahrung zu benennen? Was ist das Kostbare an dieser Form von Intimität? Und wie ist sie in die Lebensform eingebettet, die wir hier nachzeichnen, um die Idee der Würde auszuloten?
Es gibt für jeden eine seelische Grenze, die niemand aufzuheben vermag, weil sie eine begriffliche Grenze ist: Niemand anderes kann meine Erfahrungen machen und meine Erlebnisse erleben. Erlebnisse sind stets die Erlebnisse einer bestimmten Person, das gehört zu ihrer Identität. In diesem Sinne sind sie nicht teilbar: Keine zwei Personen können sich ein Erlebnis teilen, wie sie sich einen Raum, eine Arbeitsstelle oder einen Gegenstand teilen können. Diese Privatheit ist unaufhebbar, dieses begriffliche Siegel nicht zu erbrechen, ohne daß ich es besonders bewachen müßte. Der Schutz, den wir uns für den inneren Bezirk unseres Erlebens wünschen, kann also nicht das Haben des Erlebens betreffen, seinen Besitz, sondern das Wissen davon. Worüber ich wachen muß, ist der Umfang, in dem andere von meinem Erleben wissen. Doch warum ist es wichtig, darüber zu wachen?
Es gibt einen praktischen Grund, man könnte ihn auch einen Grund der Lebensklugheit nennen: Was die anderen über meine Innenwelt wissen, bestimmt das Bild, das sie von mir haben, und dieses Bild bestimmt darüber, wie sie mir begegnen. Daher ist es klug, nur das von mir sichtbar werden zu lassen, was vorteilhaft für mich ist. Was ich verschweige, muß kein Makel sein. Was ich an Gedanken, Gefühlen und Wünschen im verborgenen lasse, mag untadelig sein. Ich möchte nur nicht, daß mich die anderen ausrechnen können. In diesem Sinne
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