Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
intimen Kenntnisse anlangt, symmetrisch sein. Es ist eine schreckliche Erfahrung, wenn ich mich in einer solchen Erwartung irre und feststellen muß, daß ich mich in einer Weise geöffnet habe, die keinen Widerhall findet: Ich habe den Schritt getan und der andere nicht. Auch wenn mir der andere mit seiner Verweigerung keine Ohnmacht demonstriert, so daß man nicht von einer Demütigung sprechen kann: Es kann als schwere Kränkung im Sinne einer Zurücksetzung erlebt werden. Jeder weiß das, und deshalb kennt auch jeder die sonderbare und heikle Situation, in die uns eine unerwartete und vorschnelle Offenbarung von Intimem bringen kann: Um eine Kränkung durch ein Ungleichgewicht der Offenheit zu vermeiden, geben wir manchmal Dinge preis, die über das hinausgehen, was wir eigentlich möchten. Man könnte von einer unbeabsichtigten Erpressung durch unerwünschte Offenheit sprechen.
Intime Beziehungen besitzen eine bestimmte Form der Ausschließlichkeit : Jede solche Beziehung ist anders als alle anderen, und keine ist durch eine andere ersetzbar. Wenn sich die Innenwelten zweier Menschen verschränken, entsteht eine seelische Verbindung, die in ihrer Intensität, ihrer Tonlage und Atmosphäre einmalig und unverwechselbar ist. Das bringt Empfindungen mit sich, die mit Würde zu tun haben. Wir vermeiden es, Gesten, Worte und Rituale, die sich in der einen intimen Beziehung ergeben haben und diese Beziehung mit definierten, unverändert in eine neue Beziehung hineinzutragen. Es kann unmöglich sein, die neue Beziehung in der alten Wohnung zu leben. Wir machen mit dem neuen Partner nicht einfach die gleichen Reisen und vermeiden bestimmte Restaurants. Es kann uns verstören, wenn sich alte Gefühle unverändert auch in der neuen Beziehung einstellen. Es verstört uns, weil die Einmaligkeit in Gefahr gerät. Intimität als Routine: Wir spüren, daß das ein Problem würde. Es wäre nicht nur die Empfindung des Schalen, die wir fürchten. Es würde mehr zerstört: die Würde einer intimen Beziehung als der Respekt vor ihrer Unwiederholbarkeit.
Intime Beziehungen können zerbrechen. Was geschieht mit den geteilten Geheimnissen? Mit dem, was ich und niemand sonst über den anderen weiß? Über seine Träume, Sehnsüchte und Enttäuschungen? Über die Ansprüche an sich selbst und über sein Selbstbild? Auch das kann man als eine Frage der Würde empfinden: ob man diese Geheimnisse aufbewahrt, obwohl die Beziehung zerbrochen ist, oder ob man sie und mit ihnen die vergangene Intimität durch Ausplaudern verrät. Die Frage stellt sich auch dann, wenn der andere nun Gegner ist oder sogar Feind.
Verratene Intimität als verlorene Würde
Der Schritt in eine intime Beziehung hinein ist ein gefährlicher Schritt. Intimität bedeutet fremdes Wissen über mich, und weil es Wissen über meine Schwächen einschließt, ist es gefährliches Wissen, das dem anderen Macht über mich verleiht und mich verletzlich macht. Der andere hat erlebt, wie ich hinter der Fassade bin, die ich der Welt zeige, um mich zu schützen. Er hat die Impulse und Begierden kennengelernt, die es jenseits der inneren Zensur in mir gibt und die mich angreifbar machten, gerieten sie an die Öffentlichkeit. Er weiß jetzt von meinen unbeherrschbaren Vorurteilen, meinem häßlichen Neid, meinem maßlosen Haß. Er weiß, wieviel blinde Getriebenheit, blanke Unvernunft und Intoleranz es hinter der Fassade der Besonnenheit und Souveränität gibt. Er kennt meine Schwächen und Unfähigkeiten und hat gelernt, wie kleinlich, nachtragend und ungerecht ich sein kann. Er kennt meine Schattenseiten. Indem ich zugelassen habe, daß er sie kennenlernt, habe ich mich ihm in gewissem Sinne ausgeliefert. Intimität kann zur Waffe werden. Es gibt die Erpressung durch angedrohten Verrat intimer Geheimnisse, und es gibt die Demütigung durch die tatsächliche Preisgabe von Intimem unter dem Blick der anderen. All das kann zu einem Verlust unserer Würde führen.
Die Logik und Dynamik eines solchen Verlusts kann man an Edward Albees Stück Wer hat Angst vor Virginia Woolf? studieren. George und Martha, seit ewigen Zeiten verheiratet, wissen alles voneinander. Keine Schwäche des anderen ist ihnen verborgen geblieben. Die Schwäche des einen ist die Stärke des anderen. Es ist eine Beziehung, die vor allem vom Wissen um Versagen, um trügerische Selbstbilder und Lebenslügen lebt. Es ist eine follie à deux . Sie hat gehalten und George und Martha bis hierher getragen, weil sie
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