Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Handlung, nur einen Regisseur der Bilder. Wie soll man nennen, was die Kamera zeigt? Eine öffentliche Szene? Ein öffentliches Seelendrama? Das Seelenleben anderer als Unterhaltung? Diejenigen, die es filmen und senden, müssen es nicht so gemeint haben. Es muß kein Zynismus im Spiel sein und keine schäbig voyeuristische Mentalität. Aber gibt es nicht trotzdem ein Problem? Ein Problem der Würde?
Doch manchmal ist die Sache noch vertrackter. Es kann darum gehen, den Zuschauern in aller Welt etwas zu zeigen, was sie sonst vielleicht nicht glauben würden. Dann weicht der Respekt vor der Intimität dem Willen zur Aufklärung, man könnte auch sagen: dem Willen zur Bildung im Sinne von Weltorientierung und Wahrhaftigkeit. So ist es, wenn wir Bilder ausgemergelter nackter Menschen hinter Stacheldraht zu sehen bekommen, oder Bilder von sonstigen Grausamkeiten und sonstigem Leid. Fotos von Toten, Verstümmelten, Geschundenen. Den Betroffenen ist es dann manchmal recht, daß sie gefilmt werden: damit man ihr Elend zur Kenntnis nimmt. Gefilmte Hinrichtungen gehören nicht dazu. Hier kann man den Ekel und die Wut der Würdelosigkeit empfinden. Die Rhetorik der Information und Aufklärung ist zu fadenscheinig. Es ist pure Effekthascherei.
Schließlich gibt es die verlorene Würde des Voyeurs: desjenigen, der sich an intimen Dingen aus dem Leben anderer ergötzt und sie als Ware verkauft. Wir haben schon öfter beobachten können: Wenn jemand einem anderen die Würde nimmt, verspielt er seine eigene. So ist es auch, wenn jemand unbefugt und schnüfflerisch in die Privatsphäre anderer eintritt. Paparazzi, die rücksichtslosen und würdelosen Piraten der Intimsphäre, tun mit ihren Teleobjektiven nicht nur etwas, was gegen den guten Geschmack verstößt und in diesem Sinne Ekel hervorruft. Ihre intimen Schnappschüsse, die auf den Titelseiten der Boulevardblätter landen, sind in einem tieferen Sinne ekelhaft: Sie verletzen die menschliche Würde im Sinne der Achtung vor Intimität. Es ist eine erbärmliche Art, sein Geld zu verdienen.
Geteilte Intimität
Manchmal ist uns danach, anderen den intimen Raum zu öffnen, in dem wir leben. Wir lassen sie unsere Räume betreten und sogar darin wohnen. Sie dürfen unsere Bücher und Bilder sehen, unser Bad benutzen, in unserer Küche kochen. Und umgekehrt werden wir eingeladen, ihren intimen Raum zu betreten. Dadurch entstehen Beziehungen, die wir intime Beziehungen nennen. Für die geteilte Intimität gibt es Abstufungen. Es ist eine Frage, wie weit wir uns öffnen und wieviel wir von uns sichtbar werden lassen. Intimität wächst in dem Maße, in dem wir über den intimen Raum hinaus auch Einblick in unsere Innenwelt gewähren, in den innersten Bezirk unseres Denkens, Fühlens und Wünschens. In einer sehr intimen Beziehung zeigt man sich einem anderen so, wie nur wenige einen sehen, oder sogar so, wie kein anderer einen sieht. Man zeigt sich mit seiner Begierde, seiner Angst und seiner Sehnsucht, mit seinem Haß und seiner Verachtung, mit seinem Neid und seiner Eifersucht, mit seinen Hoffnungen und Träumen. Man läßt den anderen seine Tränen und seine Enttäuschung sehen, seinen Übermut und seine Verzweiflung, seine Unvernunft und seine Obsessionen. Man macht die Grenzen zum innersten Bezirk des Erlebens durchlässig. Und natürlich schaffen auch körperliche Beziehungen, Begegnungen der Lust, eine besondere Form der Intimität. Es gibt dabei Augenblicke, in denen wir uns unter der Wucht der Begierde, die jede Kontrolle mit sich fortreißt, ganz und gar ungeschützt zeigen.
Intime Beziehungen sind Begegnungen, wie ich sie im zweiten Kapitel besprochen habe: Menschen beziehen sich in ihren eigenen Gedanken, Wünschen und Gefühlen auf diejenigen anderer, die sich wiederum auf die eigenen zurückbeziehen können. Die Beteiligten sind dadurch in ihrem Geist auf komplexe Weise miteinander verschränkt. Bereits diese strukturelle Verschränkung stellt eine Art von Nähe dar, wie nur Menschen sie kennen. Diese Nähe bekommt durch das Teilen intimer Kenntnisse und intimer Erfahrungen eine zusätzliche Dimension. Es kommt eine wechselseitige Achtung vor dem privaten Geheimnis dazu und ein reziprokes Vertrauen in diese Achtung, das auch ein Vertrauen in die gegenseitige Verschwiegenheit ist. Es sind diese Achtung und dieses Vertrauen, welche die intime Beziehung zu etwas so Kostbarem machen. Dazu gehört die Erwartung, die Beziehung möge, was den Umfang und die Tiefe der
Weitere Kostenlose Bücher