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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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nie von Intimität und Würde gehört …« Und sein Rachefeldzug ist gnadenlos.
    Er beginnt damit, daß er Nick dazu verleitet, die Intimität seiner eigenen Ehe zu verraten: Heirat des Geldes wegen, Schwiegervater, der Kirchengeld veruntreut hat, hysterische Schwangerschaft von Honey … Und dann kommt es zum bitteren, grausamen Finale, in dem George Martha vernichtet. Er erfindet ein Telegramm:
     
GEORGE: Martha, unser Sohn ist tot. Er fuhr gegen einen großen Baum.
MARTHA: Nein! Nein! Das kannst du nicht machen! Das kannst du nicht alleine entscheiden! Das lasse ich nicht zu!
GEORGE: Hör zu Martha, hör gut zu. Wir bekamen ein Telegramm. Es gab einen Autounfall, und er ist tot. Puff! Einfach so! Wie gefällt dir das?
MARTHA: Er ist unser Kind!
GEORGE: Und ich habe ihn umgebracht!
MARTHA: Du hast nicht das Recht … du hast überhaupt kein Recht …
GEORGE: Ich habe das Recht, Martha. Wir haben bloß nie darüber gesprochen. Ich konnte ihn jederzeit umbringen, wenn ich wollte.
MARTHA: Aber warum? Warum?
GEORGE: Du hast unsere Regel gebrochen, Baby. Du hast … du hast zu jemand anderem über ihn gesprochen.
     
    Der imaginäre Sohn – er war die große, die heilige Lebenslüge zwischen den beiden, die kinderlos geblieben waren. Über ihn zu sprechen und ein Leben für ihn zu erdichten – das war wie ein Anker, ein Ruhepunkt in ihrer verrückten, zerfleischenden Beziehung. Es war das, was sie jenseits aller Enttäuschung und Feindseligkeit zusammenhielt. Ein Rest von Kitt in einer morschen, brüchigen Beziehung. Und was für unser Thema entscheidend ist: Der Kitt würde seine bindende Kraft nur so lange behalten, wie er ein Geheimnis blieb, unsichtbar für fremde Blicke. Lange schon gab es nicht mehr allzuviel Würde zwischen George und Martha. Aber das gab es noch: die Würde, die in der gemeinsamen Verschwiegenheit bestand, wenn es um den imaginären Sohn, diese tröstliche Lebenslüge, ging. Martha hat die Regel dieser Verschwiegenheit gebrochen und damit den Rest von Würde in ihrer Beziehung zerstört. Nun sieht George nur noch diese eine Möglichkeit: die Lebenslüge öffentlich, vor den nächtlichen Gästen, zu zerschlagen. Die Vernichtung aller Würde und die Verwüstung ihrer Beziehung zu vollenden.
    Nick und Honey werden Zeugen des Vernichtungsfeldzugs zwischen ihren Gastgebern. Das führt zu einem Wortwechsel zwischen Nick und George, der in der Wucht der lauernden Gefühle zeigt, wie groß unsere Wut und unser Ekel sein können, wenn wir Zeuge verratener Intimität werden, die einen Verlust von Würde bedeutet.
     
GEORGE: Glauben Sie, es macht mir Spaß, daß diese … was immer sie sein mag … mich verhöhnt und runtermacht? Vor Ihnen? Glauben Sie, daß mir das gefällt ?
NICK: Nein, das glaube ich nicht. Überhaupt nicht.
GEORGE: Ihr Mitgefühl entwaffnet mich. Es rührt mich zu Tränen!
NICK: Ich verstehe nur nicht, warum Sie andere Leute da reinziehen müssen. Wenn Sie und Ihre Frau wie Tiere aufeinander losgehen wollen – warum tun Sie es nicht, wenn keine …
GEORGE: Sie selbstgefälliger, selbstgerechter kleiner …
NICK: Hören … Sie … auf, Mister! Ich habe noch nie einen älteren Mann geschlagen.
     
    Wenn wir nicht würdelose Voyeure sind: Wir wollen gar nicht wissen, wie es bei anderen Leuten im Bezirk ihrer geteilten Intimität aussieht. Es ist uns peinlich, wenn wir Zeuge werden, wie Intimität verraten wird – so sehr, daß wir aufstehen und gehen möchten. Wie würden wir diesen Willen erklären, wenn wir aufgefordert würden? »Es geht mich nichts an« ist keine Begründung, sondern nur Ausdruck des Gefühls. Es heißt: Ich möchte Abstand halten. Warum? Eine Antwort könnte sein: weil wir spüren, daß mit dem Verrat der Intimität und der Aufhebung des Abstands zwischen uns, die er bedeutet, nicht nur ein Aspekt unseres Lebens betroffen ist, nicht nur eine Facette unter anderen, sondern die ganze Lebensform . Wir können uns vorstellen, daß Nick und Honey schon bei den ersten Anzeichen der Katastrophe aufgestanden und gegangen wären. »Das hören wir uns nicht an«, hätten sie sagen können. »Und wißt ihr, warum? Ganz einfach: So wollen wir nicht leben. «
    Wenn sich George und Nick am nächsten Tag im College begegnen, wird es anders sein als bisher: Das Wissen um die verratene Intimität wird zwischen ihnen stehen. Es ist unmöglich zu tun, als hätten sie diesen ungewollten Einblick nicht bekommen. Vielleicht tritt George die Flucht nach vorne an:
     
GEORGE: Nun

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