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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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ihre Privatsache war – eine Verstrickung ineinander, die nur sie beide etwas anging. Das ändert sich, als ein junges Ehepaar, Nick und Honey, zu einem nächtlichen Besuch erscheint und die schützende Wand der Intimität, die George und Martha um sich errichtet hatten, zum Einsturz bringt.
    Martha, die Tochter des Collegedirektors, verachtet ihren Mann, so erfahren wir von George, weil er es nicht zum Direktor des Instituts gebracht hat. »Martha sagt oft zu mir, ich sei nur am Institut, ich sei nicht das Institut – und damit meint sie: Ich leite es nicht. Zwar habe ich es geleitet, vier Jahre lang während des Kriegs; aber das war nur, weil alle weg waren. Dann kamen sie alle zurück, weil keiner gefallen ist.«
     
MARTHA: George ist nicht von Geschichte besessen. George ist vom Institut für Geschichte besessen. George ist vom Institut für Geschichte besessen, weil …
GEORGE: … weil er nicht das Institut für Geschichte ist , sondern nur am Institut für Geschichte ist. Das wissen wir, Martha …
MARTHA: George ist im Institut versumpft. Ein altes Sumpfloch im Institut für Geschichte, das ist George. Ha, ha, ha, Ha! Ein Sumpf! Hallo, Sumpf! Hallo, Sumpfi! Weiß Gott, irgendwer muß irgendwann das Institut für Geschichte übernehmen, und es wird nicht Georgie Boy dort drüben sein, soviel ist sicher. Oder, Sumpfi, oder? Damals – ich hatte alles geplant … Er war der Bräutigam, und eines Tages würde er übernehmen. Zuerst würde er das Institut für Geschichte übernehmen, und dann, nach Daddys Pensionierung, würde er das ganze College übernehmen. So war es gedacht. So war es gedacht . Sehr einfach. Und auch Daddy hielt es für eine gute Idee. Für eine Weile. Nach ein paar Jahren allerdings dämmerte ihm, daß es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war. Daß Georgie Boy einfach nicht das Zeug hatte; daß er es einfach nicht in sich hatte. George, wisst ihr, hatte nicht viel Elan; er war nicht besonders zupackend. Die Wahrheit ist: Er war eine Art Versager, ein Flop. Ein großer, fetter Flop.
     
    Martha gibt vor den nächtlichen Besuchern etwas preis, was nur sie und George etwas angeht: ihre verächtliche Meinung über ihn. Es gibt zwischen zwei Menschen Einschätzungen voneinander, die nur sie beide etwas angehen. Diese Ausschließlichkeit bestimmter Meinungen, so wie die Ausschließlichkeit bestimmter Empfindungen, macht die Intimität ihrer Beziehung aus. Martha bricht diese Intimität auf und verrät sie damit. Zur Intimität gehört das Vertrauen darauf, daß der andere das niemals tun wird. Wenn es geschieht, ist es also auch ein Vertrauensbruch. Was die Zeugen erfahren, ist somit zweierlei: Marthas verächtliche Meinung über George, und darüber hinaus die Tatsache, daß Martha bereit ist, ihre Intimität mit George zu verraten und das Vertrauen zwischen ihnen beiden zu brechen.
    George muß das als eine Demütigung erleben, die ihn in seiner Würde beschädigt. Dafür ist die Anwesenheit von Nick und Honey entscheidend. Denn nehmen wir an, George und Martha wären unter sich, und sie sagte zu ihm: »Du bist ein Versager, ein Flop.« Das wäre eine Beleidigung, eine Kränkung. Würde man es auch eine Demütigung nennen? Nicht nach dem Verständnis dieses Begriffs, wie wir ihn bisher entwickelt haben. Es fehlte die Erfahrung der Ohnmacht. Wenn sie unter sich wären, könnte George sich wehren : der Beleidigung mit einer ähnlich schweren Beleidigung begegnen, so daß sie quitt wären; oder: Martha auslachen und damit zeigen, daß sie ihn nicht hat treffen können; oder: wortlos aus dem Zimmer gehen. Nun aber hören es die Gäste. Was ist das Schlimme daran – dasjenige, was aus der Beleidigung eine Demütigung macht?
    Wenn es zum Wesen der Demütigung gehört, daß sie eine Demonstration der Ohnmacht ist, dann müßte der Blick der Gäste eine Ohnmacht begründen. Inwiefern tut er das? Einmal dadurch, daß George nicht die Macht hat, das Wissen um Marthas Verachtung in den Gästen zu löschen . Sie wissen jetzt, wie Martha ihn sieht – er kann daran nichts mehr ändern. Sie sehen ihn jetzt mit den Augen Marthas: als Flop. Ohnmächtig muß sich George ferner deshalb fühlen, weil ihm keine passende Reaktion zur Verfügung steht. Was immer er versuchte – es vermöchte nichts gegen die vernichtende Bemerkung. »Ich bin kein Flop!« – das wäre lächerlich, weil Marthas Äußerung keine Feststellung ist, die man entkräften könnte, sondern ein Angriff, und weil George als Idiot

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