Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
einen Therapeuten aufzusuchen, tut es oft, weil er beim Gedanken erschrickt, sich mit seinen intimsten Wünschen, Empfindungen und Phantasien einem Fremden gegenüber offenbaren zu müssen. Der Gedanke, der darüber hinweghilft, ist der: Es werden heilende Offenbarungen sein. Sie sind nötig, um zu einem besseren Verständnis des eigenen Erlebens und Tuns zu gelangen. Es geht um Selbsterkenntnis und Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber. Auch um die Vergrößerung innerer Freiheit geht es: um die Überwindung von Abhängigkeit, von Zwängen, Verstellungen, unguten Tabus und falscher Scham. Um solche Veränderungen zu erreichen, ist manchmal der fremde, erfahrene Blick eines anderen erforderlich, mit dem ich im gewöhnlichen Leben nicht verflochten bin und der gerade deshalb der uneigennützigen Solidarität fähig ist, die ich brauche. Meine Geheimnisse seinem Blick auszusetzen, kann befreiend sein. Jetzt können sie beim Namen genannt werden, und das ist der erste Schritt, um ihnen das Bedrohliche zu nehmen und sie am Ende in die Person zu integrieren. Wenn ich mich ihm offenbare, so geschieht es im Rahmen eines Bündnisses gegen die inneren Kräfte, die für mein Leiden verantwortlich sind, gegen Unverständnis und Unfreiheit. Mein Beitrag zum Bündnis ist die Offenheit, sein Beitrag ist die Erfahrung mit seelischem Geschehen. Das Bündnis schafft Intimität zwischen uns, doch es ist eine ungewöhnliche Intimität: Sie ist asymmetrisch, weil die Offenbarungen einseitig sind, und anders als sonst ist die Intimität kein Zweck in sich selbst und zeitlich begrenzt: Eines Tages wird sie nicht mehr nötig sein.
Zur Logik der therapeutischen Situation gehört das Vertrauen in die Verschwiegenheit desjenigen, dem ich mich offenbare. Es ist diese Verschwiegenheit, die mir das Gefühl gibt, ohne Beschädigung auch Dinge zur Sprache bringen zu können, die ich noch nie in Worte gefaßt habe, nicht einmal vor mir selbst. Wenn ich es tue, mag ich für einen Moment schwanken und mich fragen, ob das richtig ist und ob ich mich dadurch nicht verliere. Wenn ich Glück habe, wird sich im Rückblick zeigen: Es war richtig, denn die schwierige, vielleicht quälende und beschämende Offenbarung hat dazu beigetragen, daß ich meine Würde im Sinne der inneren Selbständigkeit, von der im ersten Kapitel die Rede war, zurückgewinnen konnte.
Doch was geschieht, auch im Sinne der erlebten Würde, wenn der therapeutische Prozeß eine Offenbarung von solcher Dunkelheit und zersetzenden Wucht hervorbringt, daß ich wünschte, diesen Korridor des Erinnerns nie betreten zu haben? In seinem Buch Die verlorene Kunst des Heilens berichtet Bernard Lown von einer Patientin, die wie besessen Lebensmittel kaufte. Nach langer Zeit überwand sie sich und berichtete von einer schrecklichen Erfahrung im Konzentrationslager. »Dann faßte sie sich plötzlich wieder, sah mich voll Zorn an, daß ich diesen lang vergrabenen Albtraum ans Tageslicht befördert hatte, und verfiel in Schweigen.« Wie ist dieses Schweigen zu verstehen? Wie könnten wir es deuten, wenn wir es im Sinne erlebter Würde deuten wollten?
Würdelose Offenbarungen
Jemand kann seine Würde verspielen, indem er Intimes ohne Not preisgibt und in roher Form, ohne gedankliche Bearbeitung, an die Öffentlichkeit bringt, also vor Leute, die sonst nichts mit ihm und seinem Leben zu tun haben. Es gibt keinen Grund aus einer Begegnung heraus, die Intimität aufzubrechen und sich dem Blick anderer zu öffnen. Es ist eine Entblößung vor wildfremden Menschen. Der Schutzwall um das eigene Erleben herum wird eigenhändig weggesprengt, und die grellen Lampen gehen an. Das kann auf einer Party geschehen, in die man hineingestolpert ist und wo solche Entblößungen zum guten Ton gehören. Oder jemand breitet seine intimsten Gedanken, Gefühle und Obsessionen vor der Fernsehkamera aus. Oder vor den voyeuristischen Journalisten und Fotografen der Boulevardpresse, die man ins Haus läßt. Oder in den sozialen Medien des Internets. Es kommen sexuelle Vorlieben ans Licht, auch Perversionen, Koseworte und Zärtlichkeiten, verborgene Ängste und Hoffnungen, religiöse Überzeugungen, skurrile Gewohnheiten und geschmackliche Neigungen. Und auch Symptome von Krankheit und Verfall bis hin zu den Vorboten des Sterbens werden auf diese Weise den neugierigen, sensationslüsternen Blicken eines anonymen Publikums dargeboten. Für diejenigen, die hier Regie führen, gilt: Je mehr vom innersten Bezirk ans Licht
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