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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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dastünde, der das nicht verstanden hat. Mit gleicher Münze zurückzahlen: Es würde kraftlos und schematisch wirken, wie jede Retourkutsche. Lachen: Es wäre ein verkrampftes Lachen der Hilflosigkeit. Wortlos hinausgehen: George würde als Schwächling dastehen, der nichts verträgt. Nichts tun: Er würde genauso ohnmächtig aussehen, wie er sich fühlt. Keine dieser Reaktionen vermöchte den Bann der vernichtenden Bemerkung zu brechen. Mit allem, was er täte, liefe er Gefahr, als lächerliche, erbarmungswürdige Figur dazustehen, die einen aussichtslosen Kampf führt. Es ist wie bei jeder Demütigung: Sie entwertet jede Verteidigung im voraus. Das ist das Tückische an ihr. Und schließlich gibt es noch eine weitere Ohnmacht, die George erlebt: Er weiß, daß er die Zerstörung der Intimität, die durch Marthas Tirade in Gang gekommen ist, nicht aufzuhalten vermag. Eine solche Zerstörung ist unumkehrbar.
    Das bestätigt sich ihm einige Zeit später, als Martha eine dunkle Episode aus Georges Vergangenheit ausplaudert, die bis in ihre Beziehung hinein gewirkt hat. Wir hören sie zunächst als eine Geschichte über einen von Georges Mitschülern: Er erschoß versehentlich seine Mutter und fuhr später gegen einen Baum. Der Vater im Auto neben ihm starb. Als der Junge erfuhr, daß er nun auch noch den Vater getötet hatte, wollte sein hysterisches Lachen nicht enden. Was Martha nun vor den nächtlichen Gästen offenbart, ist für George eine Demütigung, die man sich größer nicht vorstellen könnte.
     
MARTHA: Georgie Boy hatte viel vor – trotz einer merkwürdigen Sache in seiner Vergangenheit …
GEORGE: Martha …
MARTHA: … aus der Georgie Boy einen Roman machte … sein erster und zugleich letzter Versuch …
GEORGE: Ich warne dich, Martha.
MARTHA: Aber Daddy sah sich Georgies Roman an und war von dem, was er las, schockiert. Ein Roman über einen bösen Jungen …
GEORGE: Das lasse ich nicht zu!
MARTHA: … ha, ha! Einen bösen Jungen, der … hm… der seine Mutter und seinen Vater totmachte.
GEORGE: Hör auf, Martha!
MARTHA: Und Daddy sagte: Paß auf, Junge, du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich dich einen solchen Schund veröffentlichen lasse! Wenn du das verdammte Buch veröffentlichst, fliegst du hochkant raus!
GEORGE: Ich lasse mich nicht derart verhöhnen!
MARTHA: Und wollt ihr den Clou hören? Wollt ihr hören, was der große, mutige Georgie tat?
GEORGE: Das wirst du nicht sagen!
MARTHA: Und ob! Er hat den Schwanz eingezogen – das ist es, was er tat. Er kam nach Hause, warf das Buch in den Kamin und verbrannte es!
GEORGE: Ich bring’ dich um!
MARTHA: Feigling!
     
    George geht Martha an die Gurgel – so unerträglich ist die Demütigung durch ihren Verrat. Dieser Verrat ist kompliziert: Zunächst einmal wird vor Wildfremden ein Familiengeheimnis preisgegeben und damit die geteilte Intimität überhaupt verraten. Hinzu kommt, daß das Geheimnis einen Makel in Georges Leben darstellt: Er war am Tod beider Eltern beteiligt, wenngleich nicht absichtlich. Marthas Offenbarung ist deshalb eine Beschämung. George hat seinerzeit den Versuch gemacht, seine Scham zu überwinden und verlorene Würde zurückzugewinnen, indem er sein Unglück zur Sprache brachte. Diesen Versuch hat Marthas mächtiger Vater vereitelt – eine weitere Erfahrung der demonstrierten und sogar genossenen Ohnmacht. Und wenn Martha George nun vor den Fremden noch der Feigheit bezichtigt, so haben wir eine Demütigung zweiter Ordnung vor uns: George wird gedemütigt, indem eine frühere Demütigung vor Fremden ausgebreitet wird.
    George wehrt sich nun gegen die Demütigung, indem er sie beim Namen nennt. Er erreicht damit, daß er nicht nur ihr stummes Opfer bleibt.
     
GEORGE: Wir haben Demütigung des Gastgebers gespielt. Und was machen wir als nächstes? Es gibt andere Spiele. Wie wär’s mit Bespringen der Gastgeberin ? Noch nicht … Ich hab’s! Wir spielen eine Runde Zeig’s den Gästen .
     
    »Spiel«: Alle wissen, daß es kein Spiel war. Es trotzdem ein Spiel zu nennen, ist Georges sarkastische Ankündigung, daß er nach seiner grenzenlosen Demütigung, durch die ihm alle Würde genommen wurde, keine Rücksichten mehr kennt: Alles ist nun möglich. Und die Titel der Spiele kündigen an, daß es um Spiele auf verwüstetem Terrain gehen wird – Spiele, wie sie nur nach der totalen Preisgabe der Intimität und dem kompletten Würdeverlust möglich sind. Es ist, als sagte er: »Okay, laßt uns tun, als hätten wir noch

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