Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
kommt, desto besser.
Wenn wir unbedacht in so etwas hineingestolpert sind, kann es geschehen, daß wir plötzlich aufwachen wie aus einem bösen Traum: Was habe ich da mit mir machen lassen! Was habe ich da bloß gemacht! Es kann eine Verstörung bedeuten, die lange anhält. Wir erleben es als einen Verlust, und wenn wir ihn benennen müßten, würden wir sagen: Es ist ein Verlust der Würde. Kein anderes Wort trifft es. Das ist ein Beispiel, das zeigt, daß der Begriff der Würde unverzichtbar ist. Fehlte er uns, könnten wir etwas Wichtiges an unserer Erfahrung nicht verstehen.
Doch die Erfahrung eines solchen Verlusts ist nicht homogen, sie ist nicht aus einem Guß. Für das intuitive Urteil über verspielte Würde kommt es auf die Gründe an, aus denen wir uns den zudringlichen Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt haben. Einmal kann es aus Sorglosigkeit geschehen sein, aus Unerfahrenheit und Unvorsichtigkeit: Es war neu und schien einfach reizvoll, den Schritt in die Öffentlichkeit zu tun. So wird es manchmal bei Jugendlichen sein, die sich ihrer Grenzen noch nicht sicher sind und sich ausprobieren wollen. Es gibt dann keinen Plan und keinen berechneten Vorteil: Es ist einfach cool. Dann empfinden wir das distanzlose Verhalten als wenig anstößig. Wir sehen es vielleicht noch nicht einmal als Verlust der Würde, sondern als Schritt in einem Lernprozess, in dem sich das Gefühl für die eigene Würde erst aufbaut.
Es kann auch sozialer Zwang sein, aus dem heraus wir mehr preisgeben, als wir eigentlich möchten, und das Bedürfnis nach Abstand und Diskretion verraten. Eigentlich möchten wir nicht in die Sauna, unser nackter Körper geht niemanden etwas an. Fremden von sexuellen Gewohnheiten zu erzählen, gefällt uns nicht. Auch nicht, Koseworte auszuplaudern. Oder Tagträume zu erzählen, die von unserer Angst und unserer Hoffnung erzählen. Wenn wir all das widerstrebend trotzdem tun, dann deshalb, weil wir nicht ausgeschlossen werden möchten. Es gibt die Erpressung von Intimem durch Drohung des Ausschlusses. Die Würde der Diskretion zu verteidigen, ist hier zugleich der Akt, die Würde der Selbständigkeit zu verteidigen und sich von niemandem vorschreiben zu lassen, wo wir die Grenze der Intimität ziehen. Wenn uns diese Verteidigung nicht gelingt, ist es ein Zeichen der Schwäche. Wir wählen die Verletzung der Diskretion als das kleinere Übel. Das bedeutet eine verständliche Gefährdung der Würde aus Angst vor Isolation, noch kein aktives Verspielen aus Eigennutz.
Was uns abstoßen kann und das Urteil harsch werden läßt, ist der Fall, in dem jemand die intime Seite seines Lebens verkauft . Es kann ein Verkaufen für Geld sein oder ein Verkaufen für Aufmerksamkeit. Ich gehe in eine Talkshow und lege mein Innenleben für die Augen und Ohren von Millionen offen. Weil es ein gutes Honorar gibt oder weil ich endlich auch jemand sein will, der breite Aufmerksamkeit bekommt. Oder ich rufe die Voyeure der Boulevardpresse. Es ereignet sich eine Invasion von Kameras, Mikrophonen und Maskenbildnerinnen. Ich lasse die Scheinwerfer meine privaten Räume fluten. Was bisher nur Ausdruck meines intimen Lebens war, wird von Fremden in Besitz genommen und umgeräumt. Es ist ein Akt der Gewalt, und so erlebe ich es auch. Und wenn der Troß wieder weg ist und ich aus der Talkshow zurück bin, frage ich mich, ob ich nicht soeben etwas Kostbares zerstört habe.
Zerstörung von Würde als Zerstörung von Intimität kann auch von außen geschehen. Wir kennen das zwiespältige Gefühl, wenn die Kamera nahe an Gesichter heranfährt, in denen Trauer, Schmerz und Verzweiflung zu lesen sind. Warum müssen diese Tränen derart öffentlich gemacht werden? Sie sind ja keine Nachricht , keine Information , auf die irgendein Publikum Anspruch hätte. Warum also? Die Gefühle sind für diejenigen sichtbar, die an der Situation teilhaben. Am Grab etwa oder in den Trümmern einer Katastrophe. Diese Sichtbarkeit bringt die Würde nicht in Gefahr, denn sie ist natürlich und unvermeidlich. Die Kamera dagegen macht dieselben Gefühle auf besondere und künstliche Weise öffentlich: sichtbar für Millionen, für die sie in ihren Wohnzimmern eines unter tausend anderen Bildern sind, fremd und flüchtig, ohne Folgen für das eigene Handeln. Und dann springt man zum nächsten Kanal. Man kann nicht sagen, es sei eine Inszenierung. Eine Inszenierung ist eine geplante, arrangierte Szene. So ist es hier nicht. Es gibt keinen Regisseur der
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