Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
wissen Sie also, wofür mich meine Frau hält: einen Versager. Und überhaupt wissen Sie, wie es in uns und zwischen uns aussieht.
NICK: Mußte hart für Sie sein, das zu hören. Und dann noch vor uns. Vor Fremden. Aber Sie wissen ja nun auch einiges über uns. Dinge, die wir besser für uns behalten hätten.
Wie könnte es weitergehen? Gibt es von hier einen Weg, auf dem die beiden Paare ihre Würde zurückgewinnen können, untereinander und voreinander? Und was wäre das Kennzeichen dieser neuen Würde? Das Stichwort könnte sein: Würde als Wahrhaftigkeit . Diesem Gedanken gilt das nächste Kapitel.
Doch zuvor hören wir eine fiktive Stimme, die alles, was wir über Achtung vor Intimität gesagt haben, radikal in Zweifel zieht. Sich mit der Skepsis, die hier zu Wort kommt, auseinanderzusetzen, ist eine Möglichkeit, das Verständnis dieser Achtung weiter zu vertiefen. Es gilt, die skeptische Herausforderung so stark wie möglich zu machen. Nur wenn sie ganz klar und ganz kompromißlos ist, hilft sie uns zu verstehen, was genau es ist, was wir verteidigen, wenn wir die Würde der Intimität verteidigen.
Eine Herausforderung: Intimität als mangelnde Courage
»Wir sind die ANDEREN . Ihr werdet uns die Indiskreten , die Distanzlosen , vielleicht auch die Schamlosen nennen. Doch das ist uns egal. In Wirklichkeit ist es nämlich so: Wir sind die Mutigen, die Aufgeklärten, die Wahrhaftigen. Wir verstecken uns nicht. Wir stehen zu unseren Gedanken, Wünschen und Gefühlen und zeigen sie ohne Scheu. Natürlich wissen auch wir, daß die Klugheit manchmal erfordert, nicht alles zu zeigen. Damit uns die anderen nicht so leicht ausrechnen, übervorteilen und beherrschen können. Aber Klugheit ist denn auch der einzige Gesichtspunkt, den wir für Verschwiegenheit und Verstecken gelten lassen. Im übrigen sind wir genau diejenigen, die auf den Partys und in den Talkshows zu finden sind, in denen es um ganz Persönliches geht. Schließlich sind das die wirklich wichtigen Dinge – diejenigen Dinge, die sehr viele Leute interessieren. Und aus demselben Grund zeigen wir uns mit den persönlichen Seiten unseres Lebens im Internet. Es geschieht nicht aus jugendlicher Sorglosigkeit: Wir sind lebenserfahrene Erwachsene. Auch aus sozialem Zwang geschieht es nicht: Wir fühlen uns nicht erpreßbar. Und was das Geld und die Aufmerksamkeit angeht: Das ist eine Diffamierung. Nein, nein, wir sind weder unbedacht noch sensationslüstern und voyeuristisch: Wir sind nur offen und interessiert . Man lernt einfach sehr viel, wenn man sich öffnet und sich mit vielen Leuten über persönliche Erfahrungen austauscht. Gerade auch die sehr persönlichen. Diejenigen, die ihr verstecken wollt. Wie könnten wir sonst unseren Horizont erweitern, uns bilden und unser Verständnis davon vertiefen, wie es ist, ein Mensch zu sein? Das geht doch nicht durch Einmauern und Abschotten. Intimität, Verschwiegenheit, Abstand und Nähe: Sind das nicht verstaubte Vorstellungen aus verklemmter Zeit? Und sind es überhaupt Vorstellungen ? Oder bloß Wörter ? Ist das Ganze vielleicht nur leeres Gerede, bloßes Geschwätz? Ist es nicht am Ende so, daß euch einfach die Courage fehlt, vor uns anderen zu euch selbst zu stehen und euch mutig als diejenigen zu zeigen, die ihr seid? Und ist nicht DAS die eigentliche Frage der Würde? Wir kennen euch, und es würde uns nicht überraschen, wenn diese Einstellung bei euch die neue Schamlosigkeit getauft würde. Aber das würde uns mehr amüsieren, als daß es uns störte.«
Die Eröffnung ist geschickt: Offenheit, Interesse, Lernen und Bildung gegen Intimität und Verschwiegenheit als Einmauern und Abschotten. Persönliches : Auch diese Wortwahl ist raffiniert. Sie umgeht und unterläuft die Unterscheidung privat-öffentlich . Wir müssen auf der Hut sein.
»Es geht nicht darum, daß wir uns alle einmauern, um voneinander möglichst wenig zu wissen. Natürlich interessiert es uns, wie andere Menschen ihr Leben leben und erleben. Und es interessiert uns auch, wie es im innersten Bezirk ihres Erlebens aussieht. Wir wollen ja in der Tat verstehen, wie es ist, ein menschliches Leben zu leben, und wir wollen es in möglichst tiefer und umfassender Weise verstehen. Deshalb lesen und lesen wir, wir reisen und sehen uns auch den nächsten Film wieder an. Und wir führen intime Gespräche mit ausgesuchten Menschen. Worauf es ankommt, ist, daß ein jeder selbst bestimmen kann, wieviel er von sich preisgeben möchte und
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