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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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wem gegenüber. In dieser Freiheit liegt die Würde. Achtung vor Intimität heißt: Achtung vor dieser Freiheit.«
    »Das ist unstrittig. Und verfehlt das Thema. Wir vertreten ja nicht die Position eines totalitären Zwangs zur Veröffentlichung, durch den jedem sein Tagebuch aus der Hand gerissen würde. Und natürlich wollen wir auch keinen Terror der schnüfflerischen Überwachung. Aber es gibt zwischen uns diesen Unterschied in der Einstellung, und es ist ein gewaltiger Unterschied: Wenn jemand mit seinem ganz persönlichen Erleben an die Öffentlichkeit geht und also keinen Unterschied macht zwischen denen, die ihm nahestehen und viel wissen, und denjenigen, die nur die Oberfläche kennen und zu denen er Abstand wahren möchte, dann betrachten Sie das als einen Verlust seiner Würde. Genau das ist es, was wir anders sehen. Wir glauben nicht an die Wichtigkeit von dem, was Sie mit dem Wort Intimität beschwören, weder in seiner Anwendung auf Einzelne noch in seiner Erweiterung auf Beziehungen. Wir denken, daß es sich dabei um einen Fetisch handelt, und vielleicht sogar um einen bloß rhetorischen Fetisch, einen sprachlichen Zaubergegenstand. Auf jeden Fall nicht um eine unbestreitbare, substantielle und besonders wertvolle Erfahrung. Und schon gar nicht um etwas, an dem man die Idee der Würde festmachen sollte oder auch nur könnte.«
    Wie streitet man, wenn zur Diskussion steht, ob etwas eine Erfahrung ist oder nicht? Manch anderer Streit läßt sich entscheiden, indem man die widerstreitenden Behauptungen an der Erfahrung mißt. Was aber, wenn der Streit gerade darum geht, was als Erfahrung zählt?
    »Wir sind Leute, die durchaus wissen wollen, was andere erleben. Aber wir wollen es nicht von beliebigen anderen wissen. Und wollen selbst bestimmen, ob wir es wollen. Und wir sind Leute, die einiges ganz einfach für sich behalten wollen: ihre Begierden, ihre Angst, ihre Sehnsucht, ihre Enttäuschungen. Diese Verschwiegenheit brauchen wir, um das Gefühl haben zu können: Ich bin bei mir selbst. Kennen Sie das denn gar nicht?«
    »Nein. Und eigentlich verstehen wir diese Worte nicht: bei sich selbst sein . Und auch die anderen Worte nicht, mit denen Sie den Gegensatz beschrieben haben: sich verlieren , sich fremd werden .«
    »Und daß George und Martha in jener Nacht mit den Gästen etwas Kostbares verspielen? Und daß Nick und Honey es lieber nicht mit angesehen hätten? Weil es einen dramatischen Verlust bedeutet, einen Verlust der Würde?«
    »Sehen Sie: Natürlich bedeutet es immer eine Veränderung , wenn man mehr über die anderen erfährt und sie über einen selbst. Diese Veränderungen sind manchmal angenehm, manchmal unangenehm. Auch kann die Veränderung bedeuten, daß eine Beziehung nun anstrengender wird. So ist es, wenn sich George und Nick am nächsten Morgen treffen: Es ist jetzt anstrengender als bisher, als sie einfach sagen konnten: Hi! All das ist wahr, aber auch trivial. Sie dagegen machen daraus ein unnötiges Mysterium. Und bieten dafür dieses große Wort auf: Würde . Die Begierden, Ängste, Sehnsüchte und Enttäuschungen, die wir, die neuen Schamlosen, öffentlich aussprechen: Ihr habt sie doch auch, ihr leugnet sie nur. Wir sind einfach ehrlicher , und wir finden eure Unehrlichkeit abstoßend. Und würdelos , weil verlogen. Heuchelei.«
    »Wenn es um Leugnen ginge, dann hätten Sie recht. Aber das ist es nicht. Worum es geht, ist etwas anderes: den Unterschied zwischen dem, was man für sich behält, und dem, was man in die Öffentlichkeit trägt. Das hat zwar mit Verbergen zu tun, aber nicht mit Leugnen. Das Private zu schützen, ist nicht dasselbe wie zu lügen. Das Gefühl ist ganz einfach: Es geht niemanden etwas an. Es geht auch niemanden etwas an, wenn wir beispielsweise eine bestimmte Gier nicht haben – auch das geht die anderen nichts an, diejenigen im Bus oder auf der Straße oder bei der Arbeit. Das soll für die anderen ein blinder Fleck auf der Karte sein, die sie von uns gezeichnet haben. Und der Wunsch, daß bestimmte Dinge nicht Gegenstand des öffentlichen Besprechens sind, ist kein Wunsch nach Lüge und also kein würdeloser Wunsch. Im Gegenteil: Er macht die Würde aus .«
    »Nun gut: wenn es nicht Verlogenheit ist, so ist es doch Feigheit . Man möchte nicht öffentlich dazu stehen, wer man ist und was für Wünsche man hat. Und das ist würdelos. Denn Würde – das ist die Bereitschaft, hoch erhobenen Hauptes zu dem zu stehen, wer man ist und was man möchte.

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