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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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4.
Würde als Wahrhaftigkeit
     
    In seinem Buch L’Adversaire erzählt Emmanuel Carrère die wahre Geschichte einer gigantischen Lebenslüge, die den Atem stocken läßt und die man nicht mehr vergißt. Jean-Claude Romand, im französischen Jura aufgewachsen, beginnt in Lyon ein Medizinstudium. Zum ersten Examen nach zwei Jahren erscheint er nicht. Er bleibt im Bett und sieht zu, wie die Zeiger der Uhr über das Zifferblatt gleiten. Das Motiv bleibt im dunkeln, auch für ihn selbst. Er sei zwei Tage zuvor die Treppe hinuntergefallen und habe sich das Handgelenk gebrochen, sagt er viele Jahre später. Eine Lüge. Den Eltern sagt er am Tag des Examens: gut gegangen. Drei Wochen später: Er verkündet, daß er bestanden hat und ins nächste Studienjahr kommt. Mit einem erfundenen ärztlichen Attest wird er sich zwölf Jahre lang jedes Jahr wieder für das zweite Studienjahr einschreiben. Ein bürokratischer Vorgang, niemand fragt nach. Auch die anderen Studenten fragen nicht: Er trägt die gleichen Skripte mit sich herum wie sie. Er erfindet, auch vor sich selbst, eine Krebserkrankung. Das macht das erschwindelte Studium erträglich: Bald ist ohnehin alles zu Ende.
    Doch dann heiratet er, es kommen zwei Kinder. Die Frau ahnt nichts. Angeblich betreibt er in Lyon Forschung, später erfindet er einen Posten bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf. Die Familie zieht in die Nähe von Genf. Er bricht zu fiktiven Reisen auf: Kongresse, überall auf der Welt. Er studiert Reiseführer, die Frau packt seinen Koffer. Tagelang wohnt er in einem Hotel beim Flughafen und sieht zu, wie die Flugzeuge starten und landen. Fernsehen. Jeden Tag Anrufe zu Hause, Bericht übers Wetter im fremden Land. Er vermisse sie und die Kinder, sagt er zu seiner Frau. Nach Tagen kommt er zurück mit Geschenken aus der Flughafenboutique. Er ist müde wegen der Zeitverschiebung.
    Natürlich kennt er in seiner Position lauter hohe Tiere. Doch es gibt keine Einladungen. Auch kann man ihn im Büro nicht anrufen, das läuft über einen Service, der in Wirklichkeit sein Handy ist. Mit einer Besucherkarte benutzt er die Bibliothek der Genfer Organisation, die Post, das Reisebüro, die Bank. Die oberen Stockwerke, wo es Sicherheitsleute gibt, meidet er. Seinen Eltern schickt er eine Ansichtskarte des Gebäudes und kreuzt das Fenster seines Büros an. Die Kinder wollen Papas Büro sehen. Er fährt auf den Parkplatz und zeigt nach oben. Weiter nichts.
    Dieses Leben führt er fünfzehn Jahre lang. Morgens bringt er die Kinder zur Schule. Dann kauft er Stöße von Zeitungen, liest sie im Café und auf dem Parkplatz. Er kurvt durch die Städte der Umgebung. Er wandert tagelang durch die Wälder des Juras. Die Zeitung Libération schrieb später: »Er verlor sich, allein, in den Wäldern des Juras.«
    Er finanziert das Leben durch weitläufige Betrugsmanöver. Er ist beliebt und vertrauenswürdig, Verwandte und Freunde vertrauen ihm große Summen von erspartem Geld an, damit er es auf Genfer Banken günstig anlegt. Als der Schwiegervater sein Geld zurückwill, fällt er nach einem Besuch des Schwiegersohns von der Leiter und stirbt.
    Wie war es möglich, daß dieses Lügengespinst so lange hielt? Carrère schreibt: »Man kann an diese Geschichte nicht denken ohne sich zu sagen, daß es da ein Geheimnis und eine verborgene Erklärung gibt. Aber das Geheimnis ist dieses: daß es keine Erklärung gibt, und daß sich die Dinge, wie unwahrscheinlich es auch erscheinen mag, so zugetragen haben.«
    Die Geschichte findet ihr schreckliches Ende, als sich der finanzielle Betrug nicht länger verheimlichen läßt. Romands Mutter bekommt einen alarmierenden Brief von der Bank. Inzwischen hat Romand eine Geliebte, mit der er wöchentlich in Paris diniert. Auch sie hat ihm viel Geld gegeben und will es jetzt zurück. Nach fünfzehn Jahren droht die gesamte Lebenslüge aufzufliegen. Da fährt Romand ins elterliche Haus und erschießt Vater und Mutter. Danach erschlägt er seine Frau und erschießt die Kinder. Auch die Geliebte versucht er zu töten, doch das mißlingt. Er nimmt Schlaftabletten und steckt das Haus in Brand. Die Feuerwehr rettet ihm das Leben.
    Im Verlaufe des Prozesses erklärt er plötzlich, sich nun an den Grund für das verpaßte Examen zu erinnern: Er habe an jenem Morgen den Brief einer Frau erhalten, die sich aus unglücklicher Liebe zu ihm das Leben nahm. Jemand sagt dazu: »Er lügt. Das ist seine Seinsweise. Er kann nicht anders, und ich

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