Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Zum Beispiel: homosexuell zu sein. Oder: keine Kinder zu wollen. Oder: reich werden zu wollen. Oder: an die Macht kommen zu wollen. Oder: die gesamte bürgerliche Kultur mit ihren Kirchen, Museen, Konzerten langweilig zu finden, eitel und öde, einfach zum Kotzen. Ist es nicht würdelos, wenn man nicht bereit ist, dazu zu stehen? Das ängstliche, zwanghafte Schützen eines blinden Flecks: Das ist doch einfach mangelnde Courage, den Blick der anderen auszuhalten, ihr Urteil, ihre mögliche Ablehnung, ihre Verachtung. Aber die Würde besteht gerade darin: diesem Blick offen und furchtlos zu begegnen. Mit der eigenen Stimme zu sprechen, laut und deutlich, statt sie zu dämpfen und unkenntlich zu machen wie hinter einem Schal im Winter. Und der blinde Fleck: Das ist die Zone der Tabus. Finden Sie nicht auch, daß Tabus die Würde bedrohen?«
Ob es ein raffinierter Schachzug ist oder ein verrutschter Gedankengang: Hier wird der Versuch gemacht, die eine Lesart von Würde gegen eine andere zu wenden – aufgeklärtes, mutiges Selbstbewußtsein, das sich in einer eigenen Stimme äußert, gegen ein Bedürfnis nach Intimität und Verschwiegenheit. Diese Wendung ist ein Beispiel für etwas, was ich in der Einleitung beschrieben habe: Würde ist eine vielschichtige Erfahrung, die Schichten überlagern sich manchmal und werden als getrennte Schichten unkenntlich, und es ist die Aufgabe einer begrifflichen Vergegenwärtigung, sie als unterschiedene Themen und Erfahrungen sichtbar zu machen. Nur so sind Sophismata aufzudecken – und es gibt bei unserem Thema viele. Deshalb fallen nun Stichworte, die erst in den folgenden Kapiteln eingelöst und entfaltet werden.
»Es geht nicht um Tabus. Ein Tabu ist etwas, worüber man nicht reden darf , bei Strafe. Das Private, das zu schützen zur Würde gehört, ist etwas, was man freiwillig schützt, und jeder bestimmt selber, wie groß der Radius des intimen Kreises ist: was innerhalb liegt, was außerhalb, und wie er die Trennlinie im Laufe seines Lebens verändern will. Tabus verletzen Würde: weil sie verdunkeln, die eigene Stimme ersticken, Fragen unterdrücken. Tabus zu entmachten, gehört zur Würde im Sinne der Aufklärung. Und was die eigene Stimme betrifft: daß sie eigen ist und Ausdruck der Individualität, ist etwas anderes, als daß in ihr über alles gesprochen wird. Es ist die Stimme der eigenen Gedanken, Gefühle und Wünsche, und das Entscheidende ist: daß sie wirklich die eigenen sind, echt und nicht vorgesagt oder aufgeschwatzt. Der Kontrast hier ist also nicht: offen oder verschwiegen, sondern: echt und verstellt. Die Echtheit der Stimme leidet nicht, wenn es Dinge gibt, über die sie schweigt. Beschädigt wird die Würde nicht durch Verschwiegenheit, sondern durch fehlende Echtheit. Und weiter zu Feigheit: Es ist richtig, daß Verschwiegenheit über das Private auch mit Schutz zu tun hat, mit Schutz vor Verletzungen, wie sie beispielsweise vorkommen, wenn jemandes Privatleben durch den Schmutz der Boulevardpresse geschleift wird. Aber erstens ist nicht jedes Bedürfnis nach Schutz gleichbedeutend mit Feigheit. Feigheit ist ein besonderes Vermeiden von Konfrontation: wenn es Gründe gibt, ihr nicht auszuweichen. Und zweitens: Würde ist nicht dasselbe wie das Bedürfnis nach Schutz, auch wenn man vielleicht sagen kann: Sie bietet auch Schutz.«
»Was ist sie dann ?«
»Sie liegt in dem Abstand, den die Verschwiegenheit im Privaten zu anderen schafft. Wir brauchen diesen Abstand, um daraus, durch Lockerung des Verschweigens, Intimität zu gestalten. Wären wir gläsern – es gäbe keine Nähe, weil es keinen Abstand gäbe, den man überwinden könnte. Alle wüßten alles, einige möchten wir, andere nicht – das wäre schon die ganze Geschichte. Eine banale Geschichte, eine Geschichte ohne den Zauber der Intimität. Und ohne das Glück, das aus diesem Zauber entspringt.«
»Und wenn ich mein Innerstes vor aller Augen nach außen kehre – nicht, indem ich es verkaufe, sondern einfach so? Weil mir danach ist und es mir Spaß macht? Und wenn das dann immer mehr Leute so machten, bis es am Ende alle so machten, und keiner mehr übrig wäre, der euren Verlust beklagen könnte? Was wäre dann ?«
Wäre das das Ende eines Erlebens ? Oder wäre es nur das Ende von Worten ? Wenn jemand von weit draußen auf uns hinunterblickte – was würde er sagen: »Die haben einen Teil ihrer Würde verloren«, oder: »Die haben einen Teil ihrer Rede über ihre Würde
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