Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
glaube, er tut es weniger, um die anderen zu täuschen, als sich selbst.« Er selbst sagt zum Gerichtspsychiater: »Ich bin ein Mörder. Ich genieße das niedrigste Ansehen, das es in der Gesellschaft geben kann. Aber das ist leichter zu ertragen als die zwanzig Jahre der Lüge vorher.«
Andere belügen
Das Leben, das Romand geführt hat, übersteigt die Vorstellungskraft. Wir können uns trotzdem zu vergegenwärtigen versuchen, worin sein Unglück bestand und was es mit verlorener Würde zu tun hatte. Daß er in diesem Leben irgendwann seine ganze Würde verspielte, ist offensichtlich. Doch woran genau lag es? Und was spielt die Verlogenheit für eine Rolle?
Romand bringt die Kinder zur Schule, dann schlägt er die Zeit tot: auf Parkplätzen, in Cafés, in den Wäldern. Er arbeitet nichts, bekommt keine Anerkennung, gewinnt kein Gefühl für seinen Wert, entwickelt sich nicht: Er kennt die Würde nicht, die durch Arbeit entsteht. Auch die Würde der Selbständigkeit kennt er nicht: Er ist abhängig von dem veruntreuten Geld. Seine Lügen verhindern echte Begegnungen. Die soziale Fassade sei falsch gewesen, die Gefühle aber echt, sagt er vor Gericht. Das ist schwer zu glauben. Er spielt den wichtigen Mann, der aus fernen Ländern sehnsüchtig telefoniert und den Kindern Geschenke mitbringt. Seine Frau, seine Kinder und seine Freunde bringen ihm Gefühle entgegen, die jeder Grundlage entbehren. Darauf kann er nicht mit echten Gefühlen antworten, das Bewußtsein der Lüge wird das verhindern. Er kann die Gefühle und die ganzen Begegnungen nur spielen. Alles ist Fassade, alles ist Bluff. Auf Parkplätzen vor sich hin dösend und durch die Wälder seiner Jugend stapfend, wird er sich fremd.
Man könnte sagen: Romands Lügen zerstören seine Würde, weil sie seine Selbständigkeit zerstören und ihm die Möglichkeit echter Begegnungen verbauen. So beschrieben wäre der Mangel an Wahrhaftigkeit etwas, was die Würde nur indirekt gefährdet, nur über die Auswirkungen. Man könnte aber auch sagen: Er verliert seine Würde schon allein durch die umfassende Verlogenheit – einfach dadurch, daß er sich so weit von der Wahrheit entfernt. Nicht durch Irrtum, sondern durch Lüge. Wenn man es so beschreibt, bindet man die Erfahrung der Würde an den Willen zur Wahrhaftigkeit – an den Willen, sich in dem, was man sagt, fühlt und tut, an die Tatsachen zu halten. Darin, könnte man hinzufügen, liegt die Echtheit einer Person. Zu dieser Echtheit gehört der Mut, die Tatsachen auszuhalten. Romand verspielt seine Würde auch deshalb, weil ihm dieser Mut so vollständig fehlt.
Es gibt Lügen, die keine Gefährdung der Würde bedeuten. Notlügen etwa. Aber auch weitläufige Lügengebilde brauchen die Würde nicht so zu zerstören, wie es bei Romand geschieht. Ein Spion oder ein verdeckter Ermittler brauchen eine Legende: eine falsche Geschichte über ihre Identität. Die Legende verlangt vorgetäuschte Gefühle, gespielte Begegnungen. Manchmal kommen die Akteure dabei ins Schleudern, taumeln und haben das Gefühl, etwas Würdeloses zu tun. Wenn sie aussteigen, hat es manchmal mit dem Bedürfnis zu tun, verlorene Würde wiederzugewinnen. Aber es gibt einen Unterschied zu Romand: Das Lügen dient einem Zweck, an den sie als guten Zweck glauben können, etwa das Aufdecken von Verbrechen oder die Verteidung des eigenen Landes. Und es gibt Menschen – die Auftraggeber –, vor denen sie sich nicht verstellen müssen. Die Begegnung mit ihnen, bei der die Wahrheit gesagt wird, ist wie ein Anker, der sie einen Kern von Echtheit spüren läßt. Diese Erfahrung konnte Jean-Claude Romand mit niemandem mehr machen, als aus der harmlosen Lüge über ein Examen eine Lebenslüge wurde, die alles verschluckte.
Romand tötet seine Verwandten, weil er es nicht ertrüge, unter ihren Blicken als der Betrüger dazustehen, der er ist. Was sie ihm vorwerfen könnten, ist dem verwandt, was Lilli vom Schrottplatz zu Max, dem Kommissar, sagen könnte, der ihr die Scheinwelt von Felix, seiner Bank und den großen Zahlungen der Fleischgroßhändler vorgegaukelt hat. Sie ist nicht bloß ärgerlich wegen seiner Lügen. Sie fühlt sich auch in ihrer Würde verletzt: Er hat ihre Begegnung bloß vorgetäuscht und sie mit ihren falschen Annahmen und trügerischen Gefühlen ins Leere laufen lassen. Ähnliches würde Romands Frau ihrem Mann vorwerfen: daß er sie in keinem Moment ernst genommen hat. Es wäre der Vorwurf, daß er sie durch sein
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