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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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gefälschtes Leben zu einem Leben verleitet hat, das einem Phantom galt. »Wenn ich daran denke«, könnte sie sagen, »was ich fühlte, als ich deinen Koffer packte, deine Stimme aus der angeblichen Ferne hörte und die Freude der Kinder über die falschen Geschenke sah! Und all das für eine Fassade, hinter der nichts war! Nichts! «

Sich selbst belügen
     
    Lebenslügen müssen nicht darin bestehen, daß man andere belügt. Man kann auch sich selbst etwas vormachen. Was dann gefälscht wird, ist nicht die soziale Identität, sondern das Selbstbild: Man sieht und beurteilt sich so, wie man nicht ist. Es kann sich um einfache, harmlose Irrtümer handeln: Es stellt sich heraus, daß man in einer Sache weniger Einfluß hat als angenommen; daß eine Leistung weniger groß oder eine Verfehlung weniger schwerwiegend war als angenommen; daß einen der Tod eines Bekannten weniger berührt als vermutet. Harmlose Irrtümer im Selbstbild sind solche, die, einmal aufgedeckt, die seelische Identität nicht ins Wanken bringen: Im großen und ganzen kann man mit sich weiterleben wie bisher. Anders bei richtigen Lebenslügen. Mit ihnen schafft man vor sich selbst und für sich selbst eine Identität, die große Teile des Lebens umfaßt: als erfolgreicher Geschäftsmann, Künstler oder Wissenschaftler; als selbstlose, liebende Mutter; als aufrichtiger und großzügiger Freund; als aufgeklärter, verantwortungsvoller Bürger. Wenn sich solche Selbstbilder als falsch herausstellten, geriete das ganze Leben in Aufruhr. Viele Motivgeschichten über unser Tun müßten neu geschrieben werden. Die Welt der Gefühle müßte neu geordnet werden. Wert und Sinn des ganzen Lebens kämen auf den Prüfstand. All das würde Angst und Unglück bedeuten. Deshalb halten wir zäh am gewohnten Selbstbild fest, auch gegen die Übermacht der sprechenden Tatsachen. Wir wollen die Wahrheit nicht wissen.
    Willy Loman, der alt gewordene Handlungsreisende, wird von früheren Kunden wie Luft behandelt und von Kollegen ausgelacht. Wir haben an früherer Stelle gehört, wie er das Linda gegenüber eingestand. Es war ein Moment der Wahrhaftigkeit. Doch die Wahrheit ist schwer zu ertragen, und so flüchtet sich Loman sofort wieder in die Lebenslügen von Erfolg und Beliebtheit: »Ich bin unersetzlich in Neu-England. Eins müßt ihr wissen, Jungs: Ich hab’ Freunde. Ich kann mein Auto in jeder Straße in Neu-England abstellen, und die Polizisten bewachen’s wie ihr eigenes. Wer beliebt ist, dem wird’s nie an etwas fehlen. Nehmt mich zum Beispiel. Ich muß nie Schlange stehen, um die Einkäufer zu sehen. ›Willy Loman ist da!‹ – heißt es, und schon werde ich vorgelassen! … Eines Tages werd’ ich mein eigenes Geschäft haben, dann fahr’ ich nie mehr von zu Hause weg.«
    Manchmal wirken Lebenslügen, wenn wir sie bei anderen sehen, nur komisch. Wir lächeln. Doch manchmal stoßen sie uns auch ab. Und wenn wir sie bei uns selbst aufdecken, kann das ein tiefes Erschrecken bewirken. Warum? Es kann sein, daß die fehlende Wahrhaftigkeit moralisch fragwürdige Konsequenzen hat: wenn ein Chirurg sich nicht eingesteht, daß ihm die Hände nicht mehr gehorchen, oder wenn ein Alkoholiker als Bauleiter weitermacht. Doch wir können uns auch abgestoßen fühlen, wenn keine solchen Konsequenzen zu befürchten sind und wir in keiner Weise davon betroffen sind. Dann ist es die fehlende Wahrhaftigkeit an sich, die uns stört. Warum?
    Bei Romands fehlendem Mut, die Tatsachen anzuerkennen, hatten wir gesagt: Er verspielt seine Echtheit und damit seine Würde. Vielleicht ist das auch hier die richtige Antwort: Lebenslügen zersetzen die Würde im Verhältnis zu uns selbst, weil sie verhindern, daß wir in unserem Tun und Erleben echt sind: daß wir so handeln und erleben, wie wir wirklich sind. Und das hat Konsequenzen. Die eine ist, daß wir an uns selbst vorbeileben und uns fremd werden. Weil ich mich als einen sehen wollte, der leutselig, beliebt und erfolgreich ist, habe ich mich als störrischen Einzelgänger verpaßt. Weil ich aus Jugendzeiten das Bild des zornigen Revolutionärs in mir trage, verpasse ich mich in meinem Bedürfnis nach einem zurückgezogenen, privaten Leben. Ich bin vor mir selbst nicht der, der ich bin. Und lebe deshalb vieles nicht, was ich hätte leben können. Lebenslügen als Behinderungen von Lebendigkeit. Ist es nicht das, was es so bedrückend macht, wenn man entdeckt, daß man sich belogen hat? Selbst wenn andere nicht darunter zu

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