Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
machen und auf den Prüfstand zu stellen. Wenn ich die Abwehr erkenne und verstehe: Was mache ich jetzt? Was gebietet die Würde? Gilt jetzt immer noch die Maxime: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar?
Es könnte sein, daß Bernhard Winter ein Mann ist, der sich aus unbewußter Loyalität zu seinen religiös geknechteten Eltern vieles im Leben versagt hat: die aggressive Abrenzung gegen andere, die volle Entfaltung der sexuellen Begierde, überhaupt die Fähigkeit, auf seinen Bedürfnissen zu bestehen. Das hat seine Berufswahl und seine Partnerwahl geprägt, auch die Art seiner Bildung. Es prägt die Temperatur und Tonlage seiner Beziehung zu Sarah. Seit einiger Zeit wird ihr das immer klarer. Sie hat versucht, es zur Sprache zu bringen und ist auf heftigen Widerstand gestoßen. Dabei hat sie von Lebenslügen erfahren: über den Charakter und die Integrität der Eltern, über ihre Gefühle dem Sohn gegenüber, über die Opfer, die sie angeblich brachten. Und auch Selbsttäuschungen sind bei Bernhard sichtbar geworden: falsche Einschätzungen von Leistungen, Verleugnung von Aggression und Selbstgerechtigkeit, das falsche Buchstabieren von Beziehungen, auch der Beziehung zu ihr. Sie ist verreist, hat Abstand gesucht, um sich über ihre Empfindungen und die möglichen Einstellungen für die Zukunft klar zu werden. Sie spürt: Es geht auch um Fragen der Würde.
Als erstes wird sie sich vielleicht sagen: Es gilt, die verborgenen Motive hinter den vielfältigen Täuschungen zu respektieren. Sie gehören zu seiner seelischen Identität. Er will sie im dunkeln lassen, weil er nicht die Kraft spürt, sich damit auseinanderzusetzen. Es wäre zerstörerisch, sie forciert ans Licht zu holen. Es wäre ein Angriff auf ihn. Es wäre grausam. Selbst ein Therapeut könnte sich scheuen, die Eltern vom Thron zu stürzen, wenn er Bernhards seelisches Gleichgewicht in Gefahr sähe.
Was folgt daraus? Sarah kann sich sagen: In Zukunft umschiffe ich diese Klippen und Untiefen. Schließlich gibt es kein Leben ohne solche Lügen. Und das ist eine Frage meiner Würde als dem Respekt vor Bernhards seelischer Identität. Jeder hat ein Recht darauf, diese Identität zu verteidigen. Auch mit Unstimmigkeiten, Lügen und Selbsttäuschungen. Was ich versuchen werde: Ich setze das Engagement, das eine Auseinandersetzung verlangte, bei diesen Themen bewußt aus und nehme die distanzierte Einstellung ein. Die Beziehung erfährt in solchen Momenten eine neue Definition: Ich steige aus. Nicht insgesamt, aber dann und wann. Damit es nicht dazu kommt, daß er sich in seiner Ohnmacht den eigenen Gefühlen gegenüber bloßgestellt fühlt. Damit er sich nicht gedemütigt fühlen muß. Aus Respekt vor seiner Würde also.
Doch Sarah wird sich auch fragen: Was wird aus meinen eigenen Empfindungen, wenn ich wieder einmal vor einer seiner krassen Lebenslügen stehe? Spontan berührt es mich als würdelos. So wenig Aufrichtigkeit. Was soll ich machen? Sarah kann zwei gedankliche Wege gehen. Der eine: Sie erinnert sich, daß wir die Idee der Würde manchmal auf seelische Stärke hin relativieren. Wenn Lebenslügen Träger in der seelischen Architektur sind, die ohne sie einstürzen würde, so sind wir im Urteil milder: Der Vorwurf der Würdelosigkeit wird leiser. Die Würde scheint uns weniger bedroht, wenn die Lüge wegen der Größe der inneren Gefahr verzeihlich ist, wie bei einer verleugneten tödlichen Krankheit oder beim Eingeständnis einer Unfähigkeit, die für das Selbstbild vernichtend wäre. Dann denken wir: Das kann man von niemandem verlangen. Lebenslügen, könnte Sarah sich sagen, sollten nur dann als würdelos beurteilt werden, wenn dem Betreffenden die Stärke zugeschrieben wird, ihrer Auflösung standzuhalten. So ist es bei Bernhard nicht. Wenn ich mir das klarmache, wird die spontane erste Empfindung vielleicht verblassen.
Der zweite Gedanke, den Sarah ausprobieren kann: Vielleicht sollte man im Falle der inneren Überforderung nicht sagen: Die Würde ist nicht in Gefahr. Man könnte statt dessen sagen: Wir klammern den ganzen Gesichtspunkt der Würde ein . Wir halten sozusagen den Atem der Würde-Beurteilung an. Und vielleicht könnte man hinzufügen: Das ist eine Frage unserer eigenen Würde, der Würde des Betrachters. Das paßte zum Grundgedanken aus der Einleitung: die Lebensfom der Würde als Antwort auf die Gefährdungen des menschlichen Lebens. Denn dazu gehört auch ein richtiges Maß dafür, wann man die Idee der Würde auf
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