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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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jemanden anwenden kann und wann nicht.
    Die Frage nach den Grenzen der Aufrichtigkeit ist nicht auf andere beschränkt. Ich kann mich auch vor mir selbst, sozusagen von innen, fragen, ob eine Lebenslüge meine Würde untergraben muß. Solange ich die Lüge nicht als solche erkenne, stellt sich die Frage nicht. Es herrscht Stille. Doch dann kann in klarsichtigen Momenten die Wahrheit aufflackern und die Lüge erkennbar machen: über eine Ehe, eine Freundschaft oder einen Beruf, über eine Parteizugehörigkeit oder ein Engagement, das ich aus entfremdeten Gründen eingegangen bin. Wir haben gehört, wie das bei Willy Loman geschieht, wenn er sich plötzlich eingesteht, daß er im Geschäft nur noch eine Witzfigur ist, meilenweit von dem beschworenen Erfolg entfernt. Gibt es dann so etwas wie: bewußt in die Lüge zurückschlüpfen, ohne die Würde zu gefährden? Kann man sich nicht in einem hellen Moment als sein eigener Arzt gegenübertreten und sich eine Fortsetzung der Lüge verordnen, weil man noch nicht die Kraft hat, der Wahrheit ins Auge zu sehen? Ist das nicht ein Akt der Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung, der seine eigene Würde hat?
    Auch etwas anderes gibt es: die planvolle, kunstvoll gesponnene Lebenslüge. Die Situation ist so schwer zu ertragen, daß das Lügen nicht bloß eine unkontrollierbare Reaktion ist, sondern einen absichtsvollen, planvollen Rückzug aus der Wirklichkeit darstellt, eine Flucht in ein Gespinst von Selbsttäuschungen: um die schreckliche Diagnose des Arztes aushalten zu können; die Zeit im Gefängnis, im Lager; eine Verlassenheit, eine Verfehlung, ein Versagen. Es ist ein Akt der Selbstverteidigung, vielleicht sogar gegen sich selbst. Kann man es auch als einen Akt zur Erhaltung oder Schaffung von Würde verstehen? Weil es auch eine Form von Selbständigkeit ist?
    Und vielleicht gibt es davon noch eine Steigerung: Würde als trotziges, sogar groteskes Festhalten an einer Lebenslüge, die in jedem Moment als solche erkennbar ist. Könnte man so über Lomans Würde sprechen? Ist es dann die Verankerung in der Verzweiflung, die adelt? Wenn da etwas zu bewundern ist: Ist es der Lebenswille als Lebenstrotz, die Tatsache, daß sich da einer nicht geschlagen gibt, obwohl er alles verloren hat und alles gegen ihn spricht? Daß er aber nur weitermachen kann, wenn er sich an dieser Lüge festhält, so daß die Lüge wie ein Flaggenstab ist, an dem sich einer festhält, obwohl er selbst es ist, der ihn trägt und hochhält? Wie wenn sich Soldaten in aussichtsloser Lage zurufen: »Wir werden die Brücke halten!« Oder wenn einer angesichts des Todes Pläne macht, Reisen bucht, Verträge abschließt. Mit Pokerface, von dem man nicht ganz sicher ist, ob es darin nicht auch ein Lächeln gibt. Ist nicht auch das eine Form von Würde?

Die Dinge beim Namen nennen
     
    Willy Loman hat im Keller ein Stück Schlauch versteckt: Er will die Möglichkeit haben, seinem Leben durch Gas ein Ende zu setzen. Linda hat den Schlauch entdeckt und schweigt. Wir können uns vorstellen, daß Loman Lindas Entdeckung bemerkt: Der Schlauch hängt anders als zuvor. Doch auch er schweigt. Jetzt ist der Schlauch ein Tabu : etwas, worüber man nicht reden darf. Das Tabu wird die Beziehung zwischen den beiden zersetzen. Sein Wissen um ihr Wissen wird seinen Schatten auf alles werfen, was Linda tut und zu ihm sagt. Er wird es so erleben müssen, daß sie ihn wie einen schonungsbedürftigen Patienten behandelt, dem man nichts mehr zumuten kann. Er spürt: Ihr Verhalten und ihre Gefühle sind nicht mehr direkt und spontan, nicht mehr echt . Und auch von ihm aus ist die Echtheit verlorengegangen: Er kann nicht mehr glauben, was sie tut und sagt, und muß doch vorgeben, es zu tun. Er muß ihr etwas vormachen. Verhalten wie Gefühle werden unausweichlich zu etwas taktisch Bestimmtem, etwas Verlogenem. Vertrackter noch wird es, sollte sie ihn beobachtet haben, wie er ihre Entdeckung entdeckt: wie er stutzt, weil der Schlauch nicht mehr hängt wie vorher. Und vielleicht sieht er, während er sich umdreht, gerade noch, wie Linda aus der Tür verschwindet, und nun weiß er auch, daß sie von seiner Entdeckung ihres Wissens weiß. Beide wissen sie nun voneinander, daß es das Geheimnis als Geheimnis nicht mehr gibt. Wenn sie fortfahren zu tun, als ob es dieses Wissen beim anderen nicht gäbe, erstarren sie in wechselseitiger Lüge. Die Erstarrung besteht darin, daß weder das Verhalten noch die Gefühle zum Stand des Wissens

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