Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
zweiten Kapitel hatten wir festgehalten: Als selbständige Partner sind wir miteinander nicht nur im unmittelbaren Erleben verschränkt, sondern auch dadurch, daß wir uns in unseren Selbstbildern erkennen und darin aufeinandertreffen. Dazu gehört die Wahrnehmung, daß das Selbstbild des anderen und die Wirklichkeit seines Erlebens und Tuns nicht immer zusammenpassen. Die Wahrnehmung also, daß Selbsttäuschungen und Lebenslügen im Spiel sind. So etwas kann ich auch bei jemandem erkennen, mit dem ich nicht in großer Intimität lebe: als Arzt, der ein verleugnetes Leiden erkennt; als Lehrer, der eine Unfähigkeit sieht; als Vorgesetzter, der eine Überforderung bemerkt. Hier kann ich Abstand halten. Wenn es eine Frage der Würde gibt, dann die: Wie lange kann ich schweigend zusehen? Doch wenn ich mit jemandem in größerer Nähe lebe, werde ich meine Wahrnehmung irgendwann aussprechen und umgekehrt zuhören, wenn der andere von seinem Eindruck berichtet, daß ich mich belüge. Auf diese Weise in seinem Selbstbild herausgefordert zu werden, kann eine tiefe Kränkung bedeuten. Nicht, wenn es im Erleben überhaupt nichts gibt, was für eine Lebenslüge spräche. Wohl aber, wenn wir spüren, daß ein Nerv getroffen wurde. Die Kränkung, die dann entsteht, ist vielleicht die tiefste Art von Kränkung, die wir erfahren können. Trotzdem gehört diese Offenheit zur Würde einer langen und tiefen Beziehung zwischen Menschen. Es ist die Würde geteilter Aufrichtigkeit.
Diese Würde besteht nicht in der Erfüllung einer Forderung, die von außen an uns herangetragen würde. Im Bedürfnis nach Offenheit zeigt sich der Wunsch nach einer Intimität, die nur durch wechselseitiges Verstehen möglich wird. Wir möchten wissen und verstehen, wie der andere sich, sein Leben und unsere Beziehung erlebt. Die Intimität wächst mit diesem Wissen und Verstehen. Das Bedürfnis des Verstehens orientiert sich zunächst an dem, was der andere über sein Denken, Fühlen und Wollen sagt . Man nimmt ihn beim Wort. Doch von Beginn an haben wir den anderen auch in den stummen Botschaften seines Verhaltens vor uns: im wortlosen Ausdruck von Angst etwa oder von Scham und Groll. Je länger wir zusammen sind, desto deutlicher erkennen wir Unstimmigkeiten zwischen Sagen und Tun, zwischen Selbstbild und Wirklichkeit. Intimität und die Entdeckung von Selbsttäuschungen gehen Hand in Hand.
Zu einer Beziehung der Nähe gehört, daß man über Verstandenes und Unverstandenes spricht und die Grenzen des Unverstandenen immer weiter hinausschiebt. Nur so kann es Entwicklung und Lebendigkeit geben statt Stillstand und Monotonie. Das ist der Grund für den Impuls, den anderen zur Rede zu stellen, wenn wir Lebenslügen zu erkennen meinen. »Geht es dir in deinem Engagement gegen den Hunger in Wirklichkeit um Anerkennung? Ist das Motiv am Ende Eitelkeit?« »Dichtest du nicht um der Poesie, sondern um des Applauses willen? So daß die Gedichte gar nicht echt sind?« »Ist deine legendäre Toleranz nicht in Wirklichkeit Konfliktscheu?« »Gehörst du dieser Partei vielleicht nicht wegen ihres Programms an, sondern um dich an deinen Eltern zu rächen?« Oder einer sagt: »Du kaufst dir all diese Lexika, all diese Gesamtausgaben – ich sehe dich nie darin lesen.« Wenn wir solche Zweifel äußern und damit schwere Kränkungen riskieren, tun wir es, damit wir uns nicht verlieren. Denn vertuschte Lebenslügen richten Barrieren auf und schaffen Distanz. Wir werden uns durch sie fremd. Irgendwann wird Bernhard Winter seine Frau, die im Krankenzimmer heimlich wippte und pfiff, zur Rede stellen müssen.
Doch auch wenn Aufrichtigkeit ein Maßstab für Würde ist, der dem Bedürfnis nach Intimität und Verstehen entspringt: Ist sie ein bedingungsloser Maßstab? Einer, der für jeden Moment und jede Lebensgeschichte gilt? Unser Urteil ist hier unscharf und schwankend, und es gilt, diese Unschärfe sorgfältig nachzuzeichnen. Sie hat mit dem Gedanken zu tun, daß Lebenslügen nicht zufällig, rhapsodisch und launisch sind. Es gibt starke Motive für sie, Motive, die oft nicht bewußtseinsfähig sind: Angst, etwas anzuerkennen, vor allem Schwäche, Unfähigkeit, Verfehlungen, Einsamkeit; oder starke Wünsche, etwa Geltungsbedürfnis oder das Bedürfnis nach Liebe; oder weltanschauliche Überzeugungen darüber, was erlaubt ist, verboten, sündig und böse. Solche Motive können einen rabiaten und erbitterten Widerstand gegen den Versuch begründen, die Lüge zum Thema zu
Weitere Kostenlose Bücher