Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
leiden hatten?
Doch manchmal haben andere darunter zu leiden. Lebenslügen können Begegnungen vergiften und auf diese Weise die Würde der Beteiligten gefährden. Wir hatten von der Lebenslüge eines gemeinsamen Sohnes gehört, die George und Martha in Albees Stück verbindet. George tötet das Kind durch ein erfundenes Telegramm. »Mußtest du … mußtest du wirklich?«, fragt Martha am Ende in die Stille hinein. »Es war höchste Zeit«, sagt George. Und nach langem Schweigen: »Es wird uns besser gehen.« »Nur … wir beide?« fragt Martha bange. »Ja.« »Glaubst du nicht, wir könnten …« »Nein, Martha.« Das Stück ist ein einziges Fegefeuer von Demütigungen. Daraus geht eine geläuterte Beziehung hervor, die ihre Würde darin hat, daß eine Lebenslüge überwunden und ein Stück Echtheit zurückgewonnen wird.
Aufrichtigkeit und ihre Grenzen
In Christa Wolfs Buch Stadt der Engel , das von einem unnachgiebigen Willen zur Wahrhaftigkeit in Gang gehalten wird, gibt es eine Stelle, aus der eine besondere Würde spricht. Sie fragt nach ihren wahren Empfindungen angesichts der Maueröffnung und schreibt: »Hatte ich zwiespältige Gefühle, als wir dann auf dem Nachhauseweg in unserem Auto lange an der Kreuzung Schönhauser/Bornholmer Straße stehen mußten, weil der Strom der Trabis und Wartburgs, der auf den Grenzübergang Bornholmer zuflutete, nicht abriß? Was habe ich da wirklich gefühlt? Freude? Triumph? Erleichterung? Nein. Etwas wie Schrecken. Etwas wie Scham. Etwas wie Bedrückung. Und Resignation. Es war vorbei. Ich hatte verstanden.«
Inmitten von all dem Freudentaumel, dem Gehupe und den Umarmungen gesteht sich Christa Wolf ein, daß ihre eigenen Empfindungen ganz andere sind. Sie läßt sich keine Gefühle einreden und inszeniert auch keine vor sich selbst, nur weil die anderen das erwarten und sie scheel anblicken könnten, wenn sie nicht fühlt, was als politisch korrekt gilt. Sie ist aufrichtig, echt und bei sich selbst.
Man kann sich einen heimgekehrten Soldaten vorstellen, der sagt: »Ich habe loyal meinen Dienst getan. Aber jetzt werde ich Ihnen die Wahrheit sagen: Ich habe dort nichts als Angst, Ekel und vollständige Sinnlosigkeit empfunden.« Oder einen anderen Soldaten, der vor einem ablehnenden Publikum sagt: »Ich weiß, daß Sie diesen Krieg ablehnen, aber ich sagen Ihnen: Ich war dort jede Minute stolz und dankbar, diesen Dienst tun zu dürfen.« Von beiden Soldaten wird eine Würde ausgehen, die sich ihrer Aufrichtigkeit verdankt und dem Mut, zu sich selbst zu stehen, auch vor anderen.
Erfahrungen der Würde durch Aufrichtigkeit machen wir auch im privaten Leben. Nach langer Zeit und heftigem Widerstand bringen wir den Mut auf, uns schwierige Dinge einzugestehen: die Erleichterung bei einem Tod oder einer Trennung; das Bedürfnis nach Vergeltung bei einer Kränkung; die Kränkung selbst; eine Wut, eine Eifersucht. Und auch das gibt es: sich eingestehen, daß man ein Gefühl nicht hat – Zuneigung etwa oder Mitleid. Man wartet darauf – es kommt nicht. Wenn man eine Selbsttäuschung aufhebt und das eigene Erleben so anerkennt, wie es ist, spürt man eine neue Nähe zu sich selbst. Sie mag Erleichterung mit sich bringen. Vor allem aber: ein Gefühl der Würde im Sinne der Echtheit. Auch wenn die anderen von der inneren Entwicklung nichts wissen: Man begegnet ihnen jetzt anders – selbständiger, souveräner.
Würde als Aufrichtigkeit und Echtheit spielt auch in jeder engagierten Begegnung eine große Rolle. Sie kann bedeuten, daß man Erinnerungen zuläßt, die weh tun, weil sie Enttäuschungen bedeuten – das Eingeständnis, daß da immer schon Dinge gefehlt haben und die Beziehung nie so war, wie man sie sich vorstellte. Auch hier hat Würde mit Mut zu tun. Es ist der Mut, den man in der Trauerarbeit braucht, denn hier gilt: erinnern und anerkennen. Diesen Mut braucht man auch, um beim anderen schwierige Dinge zur Sprache zu bringen: schmerzhafte Empfindungen zu benennen und ernsthaft die Frage aufzuwerfen, ob sie eine Trennung verlangen oder zumindest eine Veränderung in der Art, wie man miteinander lebt. Wollen wir dieses gemeinsame Leben überhaupt noch weiterführen? Tut es uns gut? Oder ist es nur noch eine Gewohnheit, gepaart mit der Furcht vor dem Schmerz der Trennung?
Ein ernsthaftes Besprechen solcher Fragen wird unweigerlich auch zu einem Gespräch über die Selbstbilder der Partner führen – darüber, wie sie den anderen und sich selbst sehen. Im
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