Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
passen. Das ist ein wichtiges Kriterium von Echtheit: daß es keine bewußt aufrechterhaltene Kluft zwischen Wissen, Verhalten und Gefühl gibt.
Loman und Linda könnten sich nicht mehr anblicken, ohne sich durch den Blick in ihrem Wissen um das Wissen des anderen zu verraten. Das wäre nicht lebbar. Aber es wäre vor allem eine Situation, in der sie ihre Würde verlieren müßten. Um sie zu retten, müssen sie den entscheidenden Schritt tun: Sie müssen das Tabu entmachten und den Schlauch zur Sprache bringen. »Okay«, könnte Loman schließlich sagen, »du weißt von dem Schlauch, und ich weiß, daß du davon weißt. Laß uns darüber reden.« Die Wahrhaftigkeit ließe eine neue Würde entstehen.
Doch nicht immer ist es eine solche Befreiung, wenn man an ein Tabu rührt und die Dinge beim Namen nennt. Die gefürchteten Worte können auch Grausamkeit und eine erneute Gefährdung der Würde bedeuten. Mary Tyrone in Eugene O’Neills Drama Eines langen Tages Reise in die Nacht ist morphiumsüchtig. Zurück von einer Entziehungskur, scheint sie die Sucht losgeworden zu sein, doch nun fällt sie zurück. Dieser Rückfall steht im Zentrum des Stücks und führt dazu, daß die Lebenslügen der Familie aufgedeckt werden.
MARY: Wenn ich mir’s recht überlege: Ich muß wirklich in die Stadt, ich habe etwas in der Apotheke zu besorgen.
TYRONE: Daß du nur immer etwas von dem Zeug im Versteck hast und Rezepte für mehr! Hoffentlich legst du dir einen guten Vorrat an, damit wir nicht noch einmal eine Nacht erleben wie die, als du danach geschrieen hast, wie eine Wahnsinnige im Nachthemd aus dem Haus gerannt bist und dich vom Dock hinunterstürzen wolltest!
MARY: James! Du darfst nicht mehr davon reden ! Du darfst mich nicht so demütigen !
Anders als bei Loman gibt es hier kein Geheimnis, das aufgedeckt würde. Marys Sucht ist allen in der Familie seit Jahren bekannt, sie überschattet das ganze Leben der Familie. Die Demütigung, von der Mary spricht, kann also nicht darin bestehen, daß ihr ein strenggehütetes Geheimnis entrissen wird – daß man in ihren innersten Bezirk eintritt, zu dem niemand Zutritt haben sollte. Was sie als Demütigung erlebt, ist etwas anderes: daß die Sucht beim Namen genannt und die Erinnerung an eine traumatische Szene wachgerufen wird, zu der sie geführt hat. Es geht also darum, daß ihr Unglück wieder einmal zur Sprache gebracht wird. Es geht um den Akt, es zum wiederholten Male in Worte zu fassen . Es ist dieser Akt, der von Mary als grausam erlebt wird.
Wenn man etwas in Worte faßt, macht man öffentlich, daß es das ist und nicht etwas anderes, etwa: Krieg, Verrat, eine Lüge. Das Benennen zwingt zur Anerkennung einer Tatsache. Und es zwingt zur Anerkennung all der Dinge, die daraus folgen. Im Falle einer Sucht: daß jemand der Sklave eines zwanghaften Willens und nicht mehr Herr im eigenen Haus ist. Wann ist das der Auftakt für eine Befreiung, und wann ist es eine vernichtende Demütigung?
Tyrone könnte zu seiner Frau auch etwas anderes sagen: »Apotheke: nicht schon wieder! Merkst du denn nicht, daß du dich damit wieder der verdammten Sucht unterwirfst? Willst du denn ewig ihre Sklavin sein? Eine Droge – das ist kein Schicksal ! Reiß dich zusammen, kämpf dagegen! Es geht doch um dein Leben !«
Was ist der Unterschied? Es mag scheinen, als wäre es bloß ein Unterschied im Ton , vielleicht auch in Tyrones Gefühlen. Doch es ist viel mehr: Es macht einen Unterschied für Marys Würde. Denn mit diesen Worten spräche Tyrone Mary eine offene Zukunft zu: die Möglichkeit, sich aus alten Gewohnheiten zu lösen und sich zu ändern. Wir hatten im zweiten Kapitel gesehen: Wenn wir dem anderen die Würde lassen wollen, dürfen wir ihn nicht durch festgelegte Erwartungen ersticken. Seine Gewohnheiten mögen übermächtig erscheinen: Die Möglichkeit der Veränderung muß trotzdem anerkannt werden. In Tyrones ursprünglichen Worten fehlt diese Offenheit. In seinem Sarkasmus stellt er Mary als hoffnungslosen Fall dar. Und die Beschwörung der gespenstischen nächtlichen Szene ist nicht, wie sie es bei anderer Wortwahl vielleicht sein könnte, eine aufrüttelnde Mahnung, sondern eine Erinnerung, die bedeutet: Du bist schon lange eine Sklavin deiner Sucht und wirst es für immer bleiben. Er spricht ihr jede offene Zukunft ab. Er führt ihr die Ohnmacht vor Augen. Deshalb fühlt sie sich gedemütigt.
Tyrone tut es nicht, aber er könnte zu Mary sagen: »Du bist eine
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