Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Morphinistin. « So wie jemand sagen mag: »Du bist ein Alkoholiker. « Kann die Demütigung über die Festlegung hinaus, die das Ende aller Beschönigung oder Verleugnung bedeutet, einfach darin bestehen, daß das Wort ausgesprochen wird ? Das Aussprechen des Worts ist eine Handlung und verändert die Situation, sie verändert die Beziehung zwischen dem Betroffenen und dem, der das Wort ausgesprochen hat. Eine solche Veränderung tritt sogar dann ein, wenn die beiden das Wort zuvor schon gedacht haben und es in ihrem Inneren als gedankliche Episode bereits vorgekommen ist. Und auch dann, wenn die beiden von diesem verschwiegenen Gedanken beim anderen wissen. Woran liegt es? Was macht solche Worte gefährlich?
Wenn das Wort ausgesprochen ist, gibt es keinen Spielraum mehr für Verleugnung oder Beschönigung – keine Möglichkeit mehr zu tun, als sei das Unglück nicht der Fall. Auch haben solche Wörter einen Klang und einen Hof von Assoziationen, die das Phänomen schrecklicher erscheinen lassen können, als es ist. Morphinistin , Alkoholiker – das hat Obertöne von Verfehlungen und öffnet in der Phantasie Korridore der Schande und des Schreckens. Auch das kann gemeint sein, wenn man sagt: Es ist brutal, solche Worte auszusprechen. Und noch etwas kann Schrecken bedeuten: Morphinistin , Alkoholiker – das klingt wie eine Gattungsbezeichnung und damit wie etwas, was einer unwiderruflich ist. Das nimmt ihm die offene Zukunft. Einer, der nur zuviel trinkt, kann aufhören. Ein Alkoholiker hat keine Chance mehr, es nicht zu sein.
Das Gesicht wahren
Wir leben einen großen Teil unseres Lebens unter dem Blick der anderen. Wir müssen uns für sie auf bestimmte Weise darstellen. Wir müssen ihnen ein bestimmtes Gesicht zeigen. Dieses Gesicht ist die sichtbare Identität, die soziale Fassade, auch die Maske, hinter der wir uns verstecken können. Dazu gehört einmal, was »Gesicht« im engeren Sinne bedeutet: die Gesichtszüge und der Ausdruck, den wir hineinlegen. Es gehört aber auch vieles dazu, was mit den Gesichtszügen nichts mehr zu tun hat: die soziale Rolle; all das, was wir uns an Fähigkeiten, Einfluß und Macht zuschreiben; das Muster aus Gewohnheiten und Einstellungen, das wir Charakter nennen; die nach außen hin verkündeten Gedanken und Gefühle. An diesem sozialen Gesicht arbeiten wir ein Leben lang. Es wäre gefährlich, es zu verlieren. Es würde Schutzlosigkeit und Ohnmacht bedeuten. Der Gesichtsverlust wäre deshalb mit der Erfahrung der Demütigung verbunden.
Wir tun nahezu alles, um unser eigenes Gesicht zu wahren. Und manchmal helfen wir auch anderen, das ihre zu wahren. Das geht nicht ohne Lügen. Es sind interessante, subtile Lügen: Es geht nicht darum, Falsches zu behaupten; es geht darum, die Wahrheit zu verschweigen. Die Sprache solcher Lügen ist die Sprache der Diplomatie, der Euphemismen und Schönfärbereien. Es ist die Sprache der nichtssagenden Kompromisse, des angeblichen Respekts vor politischen Feinden, des angeblichen Fortschritts in verfahrenen Gesprächen, der angeblichen Leistungen derer, die versagt haben. »Ich habe einen Fehler gemacht«, pflegen Leute zu sagen, die einer Verfehlung überführt worden sind. »Wir machen alle mal Fehler.« Und schon sieht es so aus, als sei der große Gesichtsverlust vermieden worden. Auch die Sprache von Gutachten und Arbeitszeugnissen enthält nicht selten solche Lügen: Selbstverständliches wird als besondere Leistung herausgestrichen, die Mängel werden mit Schweigen übergangen. Das Ganze ist falsch, obwohl nichts Falsches gesagt wurde. Es kommt vor, daß jemand kraft seines Amtes eine Laudatio über einen verachteten Intimfeind halten muß. Man kann da Meisterleistungen der verschweigenden Verlogenheit hören. Übertroffen werden sie nur noch von den Dankesworten des Geehrten.
Lügen, die auf diese Weise der Wahrung des Gesichts dienen, sind ganz erstaunliche Lügen. Denn es sind durch und durch fadenscheinige Lügen: Sowohl die Lügenden als auch die Belogenen wissen, daß nicht die Wahrheit gesagt wird. Und es funktioniert trotzdem. Es wird gehandelt, als wäre die Lüge die Wahrheit. Weil es gefährlich sein kann, wenn jemand beschämt dasteht. George W. Bush zettelte im Irak einen Krieg an, der auf Lügen beruhte und gegen das Völkerrecht verstieß. »We’re running out of time« , predigten seine Leute auf allen Sendern. Viele wußten: Es waren Lügen. Niemand sagte: »Sie lügen .« Das war tabu. Sogar die kritischen
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