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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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Holocaust ein Vermögen. Jemand, der stets gegen die Boulevardpresse gewettert hat, macht plötzlich Reklame für sie. Jemand, der stets gegen Rassismus gekämpft hat, wird Redenschreiber für einen Politiker der Apartheid. Der Erbschleicher, der der gehaßten, aber reichen Tante nach dem Mund redet. Die Schauspielerin, die sich nach oben schläft. Der Mann, der sich den Ritualen einer Sekte unterwirft, um die Frau zu bekommen. Oder: der Kabarettist, der um einer Pointe willen jeden verkauft. Oder: Prostitution. Oder: amerikanischer Wahlkampf, in dem die Kandidaten alles sagen, um zu gewinnen. Sind das nicht alles abstoßende, unwürdige Schauspiele? Ist es nicht ganz klar , daß hier die Selbstachtung verspielt wird? Objektiv klar?
    Doch es gibt keinen objektiven, von Selbstbildern unabhängigen Standpunkt, von dem aus das zu entscheiden wäre. Der Gedanke eines solchen Standpunkts wäre nicht stimmig zu entwickeln. Der trügerische Eindruck der Objektivität speist sich aus zwei Quellen: aus Projektion und aus der kulturellen Gemeinsamkeit von Selbstbildern. Ich stelle mir vor, mein Leben wie Romand auf Parkplätzen zu verdösen, und urteile: Der Verlust der Selbstachtung wäre unerträglich. Daß dieses Urteil, in dem sich zunächst mein individuelles Selbstbild spiegelt, über mich hinaus Geltung zu haben scheint, beruht darauf, daß ich dieses Selbstbild mit vielen Leuten teile: Kaum einer würde bei der Vorstellung nicht schaudern. Und so ist es auch bei Fällen von verachtetem Opportunismus: Wir legen unseren eigenen Maßstab an, und da wir sicher sein können, ihn mit vielen anderen zu teilen, halten wir den Würdeverlust, den wir sehen, für universell.
    Verstärkt werden kann dieser Eindruck, wenn das fragliche Selbstbild zu einer sozialen Rolle gehört und die Verbindlichkeit dieser Rolle mit sich führt. Im ersten Kapitel sind wir dem Arzt begegnet, der sich bei einer Bluttransfusion und einem Kaiserschnitt über den Willen eines anderen hinwegsetzt. »Ich konnte nicht anders, ich mußte es tun«, sagt er nachher. Der Arzt hatte gespürt: Wenn ich meiner Überzeugung nicht folge, verliere ich mich. Die Entscheidung hatte mit seiner Selbstachtung als Arzt zu tun: als einem, der in seinem Selbstbild an den hippokratischen Eid gebunden ist. Dieses Selbstbild teilt er mit den Kollegen, und es ist ein Selbstbild, das auch ein Gericht anerkennen würde. Trotzdem ist es nicht mehr als das: ein Selbstbild. Eine kulturell bedingte innere Setzung, die eine Geschichte hat und sich ändern könnte. Und mit ihr die Würde im Sinne der Selbstachtung. Sich die kulturelle Bedingtheit jeder solchen Setzung vor Augen zu halten, kann uns davor bewahren, andere mit unserer Vorstellung von Selbstachtung und Würde zu tyrannisieren.

Fließende Selbstbilder
     
    Selbstbilder, die über Selbstachtung entscheiden, entstehen nicht im luftleeren Raum. Sie sind das Ergebnis langer und langsamer Prozesse der Erziehung, Bildung und kulturellen Ausformung, bei denen andere eine wichtige Rolle spielen. Ihre Anerkennung und Achtung tragen zur Festigkeit meines Selbstverständnisses bei. Ihre Kritik und Verachtung kann mein Selbstbild untergraben und zu Fall bringen. In diesem Sinne ist Selbstachtung auch ein soziales Phänomen. Was nicht bedeutet, daß es nicht auch die Würde des Außenseiters gibt: Es kann zu meiner Selbstachtung gehören, daß ich nach Prinzipien lebe, mit denen ich an diesem Ort und in dieser Gemeinschaft allein stehe. Doch auch solche Prinzipien erfindet einer nicht allein.
    Daß Selbstbilder im Austausch mit anderen Teilnehmern einer Kultur entstehen, bedeutet auch, daß sie sich wandeln können. Ein früheres Verständnis meiner selbst mag durch ein späteres abgelöst werden, das gegenläufig sein kann. Die Fragen der Selbstachtung stellen sich dann anders als früher: Was vormals eine innere Zerrissenheit und Fremdheit bedeutet hätte, kann später als stimmig erlebt werden – als etwas, für das ich mich achten kann. Für die Frage der Würde wird es darauf ankommen, wie dieser Wandel zustande gekommen ist und was für Motive dahinterstanden. Vielleicht bietet mir eine Partei, der ich fernstand, einen gutbezahlten Posten an. Ich werde sogar ihr Sprecher. »Warum sollte einer seine politischen Ansichten nicht ändern können?«, frage ich diejenigen, die mich scheel ansehen. Vielleicht bringe ich mich in einem Kraftakt der Selbstüberredung dazu, an meine Kehrtwendung als einen Prozeß der gedanklichen

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