Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
sich machen läßt.
Man kann sich vorstellen, daß Loman ihn anschreit: »Bullshit!« Und das hieße: »Komm mir nicht mit solch dummem Geschwätz!« Er könnte fortfahren: » Du weißt genau , daß es mir nicht um Erholung geht, sondern um eine andere Arbeit. Du weißt genau , daß von Erholung nicht die Rede sein kann, wenn einer gefeuert worden ist. Und vor allem: Du weißt genau , daß du mir nie wieder Arbeit geben wirst. Also hör’ auf mit dem Gequatsche über eine spätere Lösung!«
Howard hatte ihn gedemütigt, indem er ihn seine Abhängigkeit und Ohnmacht spüren ließ. Jetzt demütigt er ihn noch einmal: durch dummes Geschwätz. Er hat sich aus einem echten Gespräch, in dem es um Tatsachen ginge, zurückgezogen und quatscht sich nur noch über die Runden. Er glaubt nicht, was er sagt, und er lügt nicht einmal: Er schwadroniert nur noch. Es ist Humbug, was er sagt, verbaler Bluff. Auch so kann man die Würde einer Begegnung verspielen.
Dummes Gerede, das vorgibt, von Tatsachen zu handeln, in Wirklichkeit aber bloß heiße Luft ist, gibt es überall, es passiert jedem, und oft ist es völlig harmlos. Manchmal trifft man sich, um auf diese Weise Dampf abzulassen. Dann geht es nicht um Wahrheit und Falschheit oder um Gründe. Es geht um ein Ventil für bedrängende Gefühle – darum, durch ungeschütztes Reden das innere Gleichgewicht wiederzufinden. Und auch die leisere Variante gibt es: klönen. Man plaudert über dies und jenes, es geht hauptsächlich um das Plaudern, wahr und falsch ist nicht so wichtig, es folgt nicht viel aus dem Gesagten, und es ist bald vergessen. Keine Würde ist in Gefahr.
In Gefahr gerät sie, wenn die Situation zu ernst ist, um Gequatsche zu vertragen. So ist es bei Howard und Loman. Und so ist es in öffentlichen Zusammenhängen, wo es um etwas geht. Die Wirtschaft boomt, die Arbeitslosenzahlen gehen zurück. »Wer hat’s gemacht? Wir haben’s gemacht!«, skandiert der Mann von der Regierung stets von neuem. »Merkt der nicht, wie er sich zur Witzfigur macht?«, fragt mich der Mann am Nebentisch. »Was für ein Dummschwätzer!« »Wenn Spanien den EM -Titel holt, könnte das die Krise des Landes beenden«, höre ich im Radio. »Mit billigem Kredit unbeschwert in die Zukunft!«, sagt das Plakat der Bank. Das verschuldete Paar strahlt. »Hauptsache, es wird richtig polemisch!«, sagt die Moderatorin, die mich zu einer Talkrunde einladen will. Es ist egal, vollständig egal, was stimmt oder nicht. Wichtig sind sound-bytes , Effekthascherei und Klamauk. Wichtig ist bullshit .
5.
Würde als Selbstachtung
Als Subjekte sind wir Wesen, die ihr Tun für sich und andere verständlich machen können, indem sie Geschichten über ihre Motive erzählen. Darin zeigt sich ihre Identität: Wir sind diejenigen, von denen unsere Motivgeschichten handeln. Es sind Geschichten darüber, wo wir herkommen, wie wir wurden, was wir sind, und was wir vorhaben. In solchen Geschichten, sagte ich zu Beginn des Buches, entsteht ein Selbstbild: ein Bild davon, wie wir uns selbst sehen. Es ist nicht nur ein Bild davon, wie wir sind , sondern auch eine Vorstellung davon, wie wir sein möchten und sein sollten . Als Subjekte können wir uns bewertend gegenübertreten und uns fragen, ob wir mit unserem Tun und Erleben zufrieden sind: ob wir es gutheißen oder verwerfen. Und von dieser Bewertung hängt ab, ob wir uns für das, was wir tun und erleben, achten können oder verachten müssen. Wesen, die mit einem Selbstbild leben, kennen deshalb die Erfahrung gewahrter und verlorener Selbstachtung. Diese Erfahrung ist von großer Bedeutung für die Art, wie sie ihre Würde erleben.
Würde durch Grenzen
Die Würde eines Menschen im Sinne der Selbstachtung hat damit zu tun, daß er nicht zu allem bereit ist, um ein Ziel zu erreichen. Es gibt Grenzen für sein Tun – Dinge, die er unter keinen Umständen tun würde, ganz gleich, welchen Vorteil es für ihn hätte. Um sich achten zu können, muß er innerhalb dieser Grenzen bleiben. Er verliert die Selbstachtung, wenn er die Grenzen doch überschreitet. Diese Grenzen gehören zum Selbstbild. Aus ihm werden die Grenzen verständlich: Ich tue etwas deshalb nicht, weil es meinem Selbstverständnis zuwiderliefe und meine Identität gefährdete. Sich um seine Selbstachtung zu kümmern, heißt, sich um diese Art von Stimmigkeit im Leben zu kümmern. Wenn jemand aufhört, sich in diesem Sinne um seine Selbstachtung zu kümmern, verliert er seine
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